Schwere, aber lohnende Kost: Hans-Dieter Mutschlers "Halbierte Wirklichkeit"

„Halbierte Wirklichkeit“ ist kein Buch, dass man nebenbei lesen könnte, es fordert den Intellekt, philosophische und auch naturwissenschaftliche Grundkenntnisse sind nicht zwingend, erleichtern aber vermutlich das intuitive Verständnis.

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Als ich die Mail des Verlags Butzon & Bercker erhielt, in der ich um die Rezension des Buches „Halbierte Wirklichkeit“ von Professor Hans-Dieter Mutschler, Lehrstuhls für Naturphilosophie an der philosophisch-pädagogischen Hochschule Ignatianum in Krakau, gebeten wurde, war mir nicht ganz klar, auf was ich mich einlassen würde. Das Thema an sich ist – oder sollte es sein – für jeden interessant, der sich mit Fragen des Glaubens, insbesondere des christlichen Glaubens, beschäftigt. Der Untertitel „Warum der Materialismus die Welt nicht erklärt“ hat mich ebenfalls neugierig gemacht. Als Christ und als solcher, der eigene Schriften verbreitet, wird man ja nicht selten mit den Thesen von Atheisten konfrontiert, die in polemischer Form unsere Religion als „Geisterglauben“ abtun und im Brustton der Überzeugung verbreiten, es gebe nicht nur keinen christlichen Gott, sondern die ganze Thematik sei nicht mehr als Esoterik.

Damit ist auch schon in wenigen Worten umrissen, was das eigentlich ist, Materialismus. Etwas vereinfacht ausgedrückt behauptet der Materialist, außerhalb dieser Sphäre des Materiellen existiere nichts, mithin nichts Geistliches, was nicht materiell erklärbar wäre, und damit auch kein Gott. Obschon diese These aus weltlicher Sicht fast einleuchtend erscheint, beinhaltet sie doch Implikationen, die gerne übersehen werden, wie das sogenannte Supervenienzprinzip, nach dem alles, was ist und jede Funktion oder Eigenschaft dessen, was ist, sich in den jeweiligen Bestandteilen wiederfinden muss. Umgekehrt bedeutet das, dass aus Materie nichts grundsätzlich Neues entstehen kann, was nicht im Potenzial dieser Materie schon angelegt wäre. Materialistische Philosophen ringen darum mit dem Vorkommen von Emergenz, also doch offenbar Neuem in der Welt.

Mit diesen und weiteren Implikationen beschäftigt sich Mutschler in seinem Buch, allerdings – und das sei zur Warnung gesagt – in einem möglicherweise nicht zwingend wissenschaftlichen aber auch keinem trivialen Buch. Die Argumentation ist stringent, sie beinhaltet keine Schnörkel, was sie aber auch nicht eben leicht zu lesen macht. Mutschler ist sowohl naturwissenschaftlich als auch theologisch qualifiziert, was die Funktion als Bettkantenlektüre ausschließt. Dennoch war die Lektüre für mich bei aller Komplexität hilfreich, führt sie einen glaubenden Menschen doch auch in die Logik des Materialismus und dessen Schwächen ein. Kurz gesagt erklärt der Materialismus eben nicht die Welt, es ist nur ein Teil, eben die „halbierte Wirklichkeit“, die damit beschreibbar ist.

Damit geht es aber in dem Buch auch nicht in erster Linie um eine christliche Apologetik, es ist nicht die Absicht des Buches, den christlichen Glauben, die Existenz Gottes zu beweisen, sondern aufzuzeigen, warum eine materialistische Weltsicht jedenfalls nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann.

Dankenswerterweise erläutert Mutschler in seinem Werk aber auch, dass ein – wie er es nennt – geistlicher Monismus, ebenfalls ungeeignet ist, die Welt grundsätzlich zu erklären. Letztlich befinden sich Geistliches und Materielles auf unterschiedlichen Ebenen, und sind so für sich alleine genommen beide nicht in der Lage, die Welt zu erklären. Überhaupt ist die Frage des „Erklärens“ eine der Grundlagen des Buches: Was kann die Welt erklären, welche Erklärungen sind naheliegend, welche eher konstruiert oder fast unendlich unwahrscheinlich. Auch ein Materialist kommt nicht umhin, bei seiner Erklärung der Welt eine „Geschichte“ zu erzählen, die plausibel erscheint, sei es hinsichtlich des Urknalls oder der Evolution. Immer ist eine Geschichte notwendig, bei der sich angesichts der Tatsache der Unbelegbarkeit die Frage stellt, ob sie realistisch, nachvollziehbar, einigermaßen naheliegend ist, oder nicht.

Mutschler weist damit – wie schon geschrieben – nicht die Richtigkeit des Gottesglaubens nach, belegt aber, dass die Geschichte, die der Materialismus erzählt, nicht nachvollziehbarer, wahrscheinlicher oder weniger komplex ist als die des Glaubens. Dem Materialismus, den Mangel wird er aber in keinem Fall los, fehlt aber in jedem Fall die Sinnkomponente. Die unlösbare Theodizeefrage, wie ein allguter Gott mit dem Leid in der Welt und mit Hass und Ungerechtigkeit vereinbar ist, wird für den glaubenden Menschen eben doch beantwortet, während der Materialist auf der Sinnlosigkeit der Welt beharrt. Das alles führt Mutschler zu dem, was er eine „narrative Theologie der Natur“ nennt und die er im letzten Kapitel als Alternative zum materialistischen und ideellen Monismus ausbreitet. Vor diesem Hintergrund zitiere ich - vielleicht ein kleiner „Spoiler“ - die letzten Sätze des Buches, die den Inhalt in guten Worten wiedergeben, und hoffentlich Lust auf die Herleitung machen:

Wer diese Gedanken [Anm.: der fehlenden Erlösung] erträgt, ohne depressiv, abgestumpft oder zynisch zu werden oder ohne den Sachverhalt einfach nur zu verdrängen, der möge das tun. Er soll aber nicht meinen, dass er das Problem, dass durch die Theodizeefrage aufgeworfen wird, zum Nulltarif wieder los wird. Wir haben also die Wahl zwischen Skylla und Charybdis. Die Wahl des Glaubens scheint unter diesen Umständen aber nicht die schlechteste, so wie die gläubige rélecture der Evolution sich angesichts der Alterantiven, die uns angeboten werden, durchaus sehen lassen kann.

Mein Fazit aus all dem: „Halbierte Wirklichkeit“ ist kein Buch, dass man nebenbei lesen könnte (ich selbst habe mich seit Februar diesen Jahres langsam durchgearbeitet), es fordert den Intellekt, philosophische und auch naturwissenschaftliche Grundkenntnisse sind nicht zwingend, erleichtern aber vermutlich das intuitive Verständnis. Der Nutzen des Buches liegt aber in genau jener Beschäftigung mit einem Thema, das man als gläubiger Mensch aus dieser Richtung (ausgehend nicht vom Glauben sondern vom Materialismus) selten betrachtet und die damit neue Erkenntnisse über den eigenen Glauben wie auch über die Welt vermittelt. Eine unbedingte Leseempfehlung – und für einen geschulten Theologen oder Philosophen sicher auch noch ein größeres Lesevergnügen als für einen interessierten Laien, der sich viele der Inhalte hart erarbeiten muss.

Hans-Dieter Mutschlers „Halbierte Wirklichkeit – Warum der Materialismus die Welt nicht erklärt“ ist im Januar 2014 im Verlag Butzon & Bercker erschienen und zwischenzeitlich auch als kindle Edition bei Amazon verfügbar.

Zuerst erschienen auf papsttreuer.blog.de

 

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