Schengen oder Nicht-Schengen?

Das Schengen-Abkommen hat uns Reisefreiheit gebracht. Ein temporäres Aussetzen hieße nicht, es ganz abzuschaffen. Angesichts der Flüchtlingsproblematik ist die Schengen-Frage längst Diskussionsthema.

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Schengen-Abkommen temporär aussetzen? Es ganz ablösen? Oder nicht? Klar ist: Schengen ist ein wichtiger Teil europäischer Freiheit. Wir können frei reisen und leicht unseren Wohnort wechseln. Auch für die Wirtschaft sind damit erhebliche Erleichterungen verbunden. Ist es notwendig, Schengen auf den Prüfstand zu stellen? Immerhin gibt es angesichts der Krise einen internationalen Diskurs zu dieser Problematik.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Das Schengen-Abkommen auszusetzen wäre keine Lösung um der Lösung willen. Es könnte aber eine temporäre Maßnahme sein, um drängende Probleme in den Griff zu bekommen.

Das Thema ist längst in seiner Tragweite erfasst worden. Die Flüchtlinge in Ungarn, in Serbien, am Kanal zwischen Frankreich und England, die sinkenden Schiffe auf dem Mittelmeer, der furchtbare Menschenschmuggel – für all diese Probleme müssen schnell Lösungen gefunden werden. Niemand will Menschen in Not im Stich lassen. Niemand will freiwillig die Reisefreiheit in Europa aufgeben. Aber gleichzeitig will niemand chaotische Migrationsströme in Europa, und schon gar nicht einen Import der nahöstlichen Konflikte auf europäisches Territorium. Jeder sieht die Problematik. Doch eine gemeinsame europäische Lösung ist weit entfernt. Dabei brauchen wir die offene, ideologiefreie Diskussion. Denn am Ende wird die praktikabelste Lösung sein, die am ehesten die unterschiedlichen EU-Länder zu einem gemeinsamen Handlungs-Nenner zusammenführen kann.

Hier liegt der entscheidende Punkt: Es muss eine europäische Lösung gefunden werden. Dann bräuchte man auch nicht das Schengen-Abkommen antasten. Auf Tagesschau.de kommentierte die WDR-Korrespondentin Karin Bensch die Lage folgendermaßen:

„Es kann nicht sein, dass Ungarn Tausende Flüchtlinge mit Zügen ausreisen lässt - Richtung Österreich und Deutschland. Ohne die Migranten zu registrieren, ohne mit einem Asylverfahren zu prüfen, ob sie ein Bleiberecht in Europa haben oder nicht. Doch das macht nicht nur Ungarn so. Behörden in Italien und Griechenland schaffen sich ebenfalls auf diese Weise immer wieder Flüchtlinge vom Hals, von denen sie sich überfordert fühlen. Das ist extrem unsolidarisch und egoistisch. Und es hat mit einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik absolut gar nichts zu tun.“

Außerdem wies sie darauf hin, dass wenn die EU in der Bewältigung der Flüchtlingsproblematik scheitern sollte, das Schengen-Abkommen in Gefahr sei und somit unsere europäische Reisefreiheit.

Dann werden die Bürger wieder mit Grenzkontrollen zu rechnen haben. Es ist aber auch gut möglich, dass viele EU-Bürger lieber Grenzkontrollen über sich ergehen lassen, als dem wachsenden Chaos zuzusehen.

Europäische Länder ergreifen Einzelinitiativen

Nach und nach werden die Staaten im Alleingang aktiv. Großbritanniens Premier Cameron kündigte an, härter gegen illegale Einwanderung vorzugehen. Frankreich fängt an, die Grenze zu Italien intensiver zu kontrollieren. Österreich sichert seine Grenze nach Ungarn ab. Ungarn errichtet einen Stacheldrahtzaun an der Grenze zu Serbien. Polen will sich an der Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten nur sporadisch beteiligen, weil man einen größeren Flüchtlingsstrom aus der angrenzenden Ukraine erwartet.

Die Einzelhandlungen der EU-Staaten machen klar: Wenn es so weitergeht, spielt es keine Rolle mehr, ob Schengen offiziell ausgesetzt wird oder nicht, weil es praktisch von allein durch das Handeln der Staaten ausgesetzt wäre.

Selbst der Präsident des Bundesamts für Migration sieht Schengen in Gefahr: Wie unter anderem Zeit-Online berichtete, hat der Präsident des Bundesamtes für Migration, Manfred Schmidt, die Aussetzung des Schengen-Abkommens und die Wiedereinführung der Visa-Pflicht für die Balkan-Länder als mögliche Option ins Spiel gebracht.

Pro und Contra: Ist das Schengen-Abkommen noch zu halten?

Judy Dempsey von „Carnegie Europe“ ist mit dem Slogan „Is Shengen dead?“ der Frage nachgegangen, inwieweit die Regeln des Schengen-Abkommen angesichts der aktuellen Lage noch praktikabel sind. Verschiedene Experten auf ihre Frage unterschiedliche Antworten und Statements abgegeben. Eine kleine Auswahl der Meinungen sei hier kurz und sinngemäß zusammengefasst.

James Davis (Director of the Institute of Political Science at the University of St. Gallen), vermutet, das Schengen-Abkommen werde das Jahr 2016 nicht überleben, falls Europa nicht ein gemeinsames Zweckinteresse daran wiederfände. Es gebe, so Davis, mehrere Gründe, die die Aufrechterhaltung des Schengen-Abkommen erschweren würden. Zum einen würden kriminelle Banden die Binnenfreiheit in Europa ausnutzen, um in verschiedenen Ländern großangelegte Einbrüche zu verüben und dann mit vollen Lastwagen schnell die Grenzen passieren, bevor der Einbruch bemerkt wird. Außerdem würde die wachsende Zahl der Flüchtlinge, von denen allein in Deutschland dieses Jahr bis zu 800.000 erwartet werden, die Stimmung in der Bevölkerung umschlagen lassen. Schließlich wachse die Gefahr, dass unter den Flüchtlingen auch radikale Islamisten sein können.

Thanos Dokos (Director general of the Hellenic Foundation for European and Foreign Policy, ELIAMEP) sieht für das Schengen-Abkommen vor allen die Gefahr, dass die europäischen Länder nicht an einem gemeinsamen Strang ziehen. Während Deutschland und Schweden sehr aufnahmebereit seien, würde sich der Enthusiasmus in den anderen Ländern stark in Grenzen halten. Die Gefahr, dass unter den Flüchtlingen radikale Einzelpersonen sein könnten, würde die Xenophobie und Islamophobie anheizen. Die Krise sei wie ein Test für die europäische Solidarität und gemeinsame europäische Idee.

François Heisbourg (Special adviser at the Foundation for Strategic Research) weist darauf hin, dass es noch keine europäische Institution gebe (im Gegensatz zum Finanzsektor), die eine derartige Krise europaweit managen könnte. Nun bestehe die Gefahr, dass angesichts der wachsenden Flüchtlingszahlen der Rechtspopulismus wachsen könnte und dass die EU bei der Versorgung der Flüchtlinge scheitern könnte. Heisbourg fürchtet, die Kombination aus Euro-Finanzkrise und Flüchtlingskrise könnte zu einer großen Gefahr für den Erhalt der EU werden.

Nicolas Karides (Director of Ampersand Public Affairs) hob die Bedeutung des Schengen-Abkommens hervor. Die Reise- und Bewegungsfreiheit innerhalb Europas sei ein wichtiges Gut. Drängender sei es, die gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik der EU besser zu organisieren. Europa müsse Führungsstärke zeigen und sich nicht nur im kurzfristigen und Krisenmanagement ergehen.

Der ehemalige britische Minister für EU-Angelegenheiten, Denis MacShane, hält das Schengen-Abkommen nicht relevant genug für die Lösung der Flüchtlingsproblematik und die Gefahr des Terrorismus. Stacheldraht würde niemanden abhalten. Seiner Meinung nach wäre es besser, insgesamt in Europa auf unter anderem mehr Überwachung, mehr Polizeipräsenz und bessere grenzübergreifende Zusammenarbeit zu setzen.

Roderick Parkes (Scholar at the Swedish Institute of International Affairs and nonresident senior fellow at the Polish Institute of International Affairs) verweist auf die weltweit einmalige Kompetenz der EU in der Frage, wie sich Strukturen grenzübergreifend aufbauen und organisieren lassen. Das sei mittlerweile Vorbild für andere Regionen in der Welt. Mit Abschaffung des Schengen-Abkommens würde Europa nicht mehr die Vorbildfunktion in dieser Entwicklung erfüllen können.

Marc Pierini (Visiting scholar at Carnegie Europe) führt als Argument an, dass erstens der Terrorismus sowohl Länder des Schengen-Abkommens als auch Länder außerhalb des Schengen-Abkommens betreffe. Weder Flüchtlinge noch Terroristen würden sich darum scheren, ob es Schengen-Grenzen gebe oder nicht. Auch eine umfangreichere Überwachung würde das Problem nicht lösen. Sowohl die Zunahme terroristische Anschläge als auch die größeren Migrationsbewegungen könnte nur durch ein weit umfassenderes Maßnahmenpaket auf lange Sicht gelöst werden.

Adam Reichardt (Editor in chief of New Eastern Europe) meint sinngemäß, die einfachste Lösung für das derzeitige europäische Problem sei die Absetzung des Schengen-Abkommens und die Sicherung der Grenzen auf nationaler Ebene. Da die europäischen Länder nicht mit gemeinsamen Lösungen aufwarten können, würden eben die einzelnen Länder mit individuellen Lösungen aufwarten. Dies würde natürlich die europäische Einigungsgeschichte um Jahrzehnte zurückwerfen. Doch einfach nur Schengen auszusetzen, hieße, die Ursachen der Probleme auszublenden. Wichtiger sei, eine gemeinsame proaktive Außenpolitik zu entwickeln, um Konflikten entgegenzuwirken.

Stephen Szabo (Executive director oft the Transatlantic Academy), weist darauf hin, dass man eine europäische Lösung finden muss, die Flüchtlinge unter den Ländern gerecht aufzuteilen. Sonst würde es in Deutschland Demonstrationen geben und würden extreme politische Gruppen wie Front National in Frankreich und Marine Le Pen politisch erstarken.

Viele Meinungen, doch es fehlt der gemeinsame Plan

Die Diskussion zur Bewältigung der Asyl- und Migrationsproblematik wird anhalten. Man sieht, dass es viele unterschiedliche Argumente gibt. Doch Europa braucht zunächst ein schnelles und einheitliches Handeln. Jetzt wird sich zeigen, ob die EU als Institution der Lage Herr werden kann oder ob am Ende die Initiativen der Einzelstaaten die Richtung vorgeben. Damit wäre allerdings Schengen von allein außer Kraft gesetzt.

( Schlagwort: GeoAußenPolitik )

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: B

Jetzt mal ganz ehrlich wer von uns hier profitiert nicht vom Schengener Abkommen?

Jeder Fleisch oder Lebensmittel billig im Supermarkt kauft oder jeder der ein Auto, das in Europa gefertigt wurde.

Jeder der Urlaub in einem europäischen Gebiet macht oder nur mal schnell zum shoppen nach Straßburg geht.

Und jetzt denkt mal dann darüber nach, was passieren wird falls es diese Vorteile nicht mehr geben sollte........!?

Gravatar: Alfred

Sehr richtig #Datko
Ich möchte nur noch hinzufügen, das die von ihnen erwähnten Überschüsse nicht vom Ausland sondern von den Deutschen bezahlt werden. Ein target2-Ausgleich zwischen den Zentralbanken findet nicht statt.

Gravatar: Joachim Datko

Zwei von Deutschland verursachte Probleme:

-- Deutschland hat durch seine Großzügigkeit und seine finanziellen Mittel einen "Magneten" für Asylbewerber und Wirtschaftsflüchtlinge geschaffen.

-- Deutschland hat durch seine langjährigen hohen Leistungsbilanzüberschüsse andere Länder in wirtschaftliche Schwierigkeiten gebracht.

Gravatar: Alfred

Was nützt uns die Reisefreiheit? Es hilft nur dem Verbrechen und der Invasion der Ausländer.
Europa wacht auf, bevor es zu spät ist.

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