Richard-Strauss-Jahr, Fortsetzung

Richard Strauss ist der Vertreter einer exotisch gewordenen Hochkultur, der zu uns kulturellen Steppenbewohnern spricht, die ihr Glück eher im Media Markt finden als im Konzertsaal.

Veröffentlicht:
von

Richard-Strauss-Jahr, Fortsetzung. Zu den großen und wahrscheinlich unwiederbringlichen Verlusten der jüngeren Zeit gehört die musikalische Bildung. Obwohl der gesamte Planet von früh bis nachts in Musik gehüllt ist, kann kaum ein Mensch mehr Noten oder gar Partituren lesen, außerhalb vor allem konfuzianischer Teile Asiens scheint niemand mehr ein Instrument ernsthaft spielen können zu wollen, und auch der Gesang stirbt mählich aus, weil überall das Radio oder der Player dudeln; sogar in Bella Italia singen die Bäcker und Handwerker nicht mehr bei der Arbeit und die Gondolieri allenfalls nach Aufforderung. Noch vor einem Jahrhundert beherrschte jeder Gebildete mindestens ein Instrument und konnte Noten so selbstverständlich lesen, wie er Homer und Horaz jeweils im Original las, besonders in Deutschland, dem musikalischen Herz des Planeten. Man hockte nicht vor Fernseh oder Facebook, sondern trieb Hausmusik. Tempi passati. Es hat nicht den Anschein, als werde kollektiv etwas vermisst, die meisten Menschen interessieren sich nicht für Musik bzw. bedienen sich ihrer, wie sie sich der Nahverkehrsmittel oder Gaststätten bedienen, und immerhin die von den Medien als beachtenswert eingestuften öffentlichen Darbietungen sogenannter ernster Werke sind vergleichsweise gut besucht, wobei sie immer mehr ins Zirzensische abdriften; dort treffen und tummeln sich die Reste des bürgerlichen Kulturpublikums und ein paar interessierte Neulinge aus der Brave New Amüsierworld. Migranten aus gewissen Weltgegenden, die hier in den nächsten Jahren die Mehrheitsverhältnisse ändern werden, exkludieren sich überwiegend per se vom abendländischen Kulturbetrieb.

Es ist nicht nur in diesem Kontext rührend, wenn man den Brief über das humanistische Gymnasium liest, den Richard Strauss unmittelbar nach Kriegsende geschrieben hat und in dem er konkrete Vorschläge macht, dem sich ausbreitenden musikalischen Analphabetentum im Gymnasialunterricht entgegenzuwirken (ein paar Kilometer weiter östlich sollte ein gewisser Hanns Eisler vergleichbare Gedanken entwickeln, wenn auch mit anderer, politischer, den Kunstsinn der Arbeiterschaft so ehrenwert wie vergeblich in den Blick nehmender Tendenz). Strauss, der ähnliche Ideen bereits in seinen "Zeitgemäße(n) Glossen für Erziehung zur Musik" von 1933 zu Papier brachte, empfiehlt die Preisgabe von ein paar Stunden Naturwissenschaften, die ohnehin Spezialistentum und den meisten zeitlebens nichts nutz seien; interessanterweise schlägt er überdies vor, die gymnasiale Bildung um Grundkenntnisse der Rechtslehre zu erweitern. Das sogenannte „kunstsinnige Publikum“, welches die Konzertsäle und Opernhäuser bevölkert, vergleicht Strauss mit einem „zehnjährigen Kind, dem man Wallenstein in chinesischer Sprache vorführt“. Damit dürfte auch der durchschnittliche Opern- und Konzertbesucher der Gegenwart exakt charakterisiert sein, der nicht einmal mehr die Textbücher der Opern kennt, weshalb die Libretti über der Bühne eingeblendet werden, auf dass der Zuschauer das Orchester überhaupt nicht mehr zur Kenntnis nehme, regelbestätigende Ausnahmen vernachlässigt. Strauss sprach sich bei anderer Gelegenheit und wiederholt auch für einen besser beleuchteten Orchestergraben (und gegen den verdeckten zu Bayreuth) aus, damit das Publikum sich auf das Wesentliche, die Musiker und den Kapellmeister, konzentriere, statt den eher unwichtigen Geschehnissen auf der Bühne zu folgen, die man nach ca. der dritten Aufführung ja ohnehin kenne, während es in den Partituren der Großen auch nach 50 Aufführungen immer Neues zu entdecken gebe.

Zurück zur Strauss'schen Bildungsillusion: Wenn, so der Komponist, in den sechs höheren Klassen in wöchentlich drei Stunden – „1 Stunde Theorie, 2 Stunden Klavier“ – das Studium von Harmonielehre, Kontrapunkt, Satztechnik etc. brav betrieben werde, dann „werden zwei Drittel der Absolventen des humanistischen Gymnasiums in fünf bis zehn Jahren den Stamm eines Konzert- und Theaterpublikums bilden, dem einen Tristan vorzuspielen wirklich lohnt, und das eine Schubert’sche Sinfonie oder eine Fuge der Jupiter-Sinfonie mit dem gleichen Verständnis anhören wird, wie Nathan den Weisen oder die Jungfrau von Orleans.“ Tatsächlich spricht hier der Vertreter einer exotisch gewordenen Hochkultur zu uns kulturellen Steppenbewohnern, die ihr Glück eher im Media Markt finden als im Konzertsaal. Noch einmal hundert Jahre, und die Menschen werden sich in den Opernhäusern und Musiksälen, wie auch immer die dann ausschauen mögen, umrauscht jedenfalls von den Klängen der vielleicht noch klassisch genannten Werke ungefähr vorkommen wie Touristen in ägyptischen Tempeln, die sie mit einem abgeklärten Staunen durchschreiten, deren irgendwie künstlerischen Wert sie durchaus anerkennen, aber deren Inschriften sie weder lesen können noch wirklich verstehen wollen.

Zuerst erschienen auf michael-klonovsky.de

Für die Inhalte der Blogs und Kolumnen sind die jeweiligen Blogger verantwortlich. Die Beiträge der Blogger und Gastautoren geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.

Ihnen hat der Artikel gefallen? Bitte
unterstützen Sie mit einer Spende unsere
unabhängige Berichterstattung.

Abonnieren Sie jetzt hier unseren Newsletter: Newsletter

Kommentare zum Artikel

Bitte beachten Sie beim Verfassen eines Kommentars die Regeln höflicher Kommunikation.

Keine Kommentare

Schreiben Sie einen Kommentar


(erforderlich)

Zum Anfang