Pazifist Wagner

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Lektüre, zum ersten: Hilal Sezgin rechnet in ihrem Buch "Artgerecht ist nur die Freiheit" vor, dass jedes Jahr in Deutschland 600 Millionen Hühner ihr Leben verlieren und anno 2011 weltweit 65 525 000 000 Tiere geschlachtet wurden, wobei nur gezüchtete Landwirbeltiere in diese Zahl einflossen, es kommen noch die Fische und die Jägerei hinzu.Das ständige Wachsen der menschlichen Population wird auch diese Zahlen weiter steigen lassen. Dazu mag sich jetzt jeder verhalten, wie er will (vermutlich stammt das Fleisch demnächst ohnehin nicht mehr vom Tier, sondern wird in vielstöckigen Plantagen angebaut); ich nehme diese Horrorzahlen nur zum Anlass für die Frage: Wer war unter den bedeutenden Künstlern dieser Erde der entschiedenste Prediger des Vegetarismus? Es war Richard Wagner. Im Alter hielt er die vegetarische Ernährungsweise sogar für den Schlüssel zur Lösung sämtlicher Menschheitsprobleme. Überdies war Wagner ein radikaler Pazifist, "Menschenmord" und "Tiermord" hingen nach seiner Ansicht unmittelbar zusammen. Des Meisters Pazifismus haben die Bayreuther Blätter, so nationalistisch und völkisch sie sich später präsentierten, stets die Treue gehalten, auch im Dritten Reich, und während des Ersten Weltkriegs stimmten sie nicht in den Chor der Bellizisten ein, worüber man hierzulande aber wenig erfährt, und schriebe nicht der achtbare Udo Bermbach seine Bücher, ich wüsste es selber kaum. Auch über Wagners Pazifismus und Vegetarismus war im Jubiläumsjahr wenig zu lesen, denn man hatte zwanghaft den vermeintlichen Antisemiten herauszukehren, freilich ohne den Hinweis, dass Wagners Judenfeindschaft im Wesentlichen Antikapitalismus und Antimammonismus gewesen ist (inwieweit begründet, steht auf einem anderen Blatt; ich glaube inzwischen nicht einmal mehr, dass er im rassischen Sinne Antisemit war).

Und damit wären wir bei der nächsten Lektüre: Das FAZ-Feuilleton macht auf mit einem ganzseitigen Artikel zum Ablauf der Parsifal-Schutzfrist vor hundert Jahren, womit Bayreuth sein Exklusivrecht auf dieses Opus verlor. Der Verfasser kommt zu dem bemerkenswerten Schluss, das anno 1914 weltweit waltende "Parsifal-Fieber" habe nicht direkt, aber irgendwie mit "dem allgemeinen Kriegsfieber" und dem "kollektiven Begeisterungstaumel" korrespondiert, von dem Europa damals erfasst worden sei (dieser "kollektive Taumel" ist übrigens auch nur ein Klischee, niemals ergriff die Kriegsbegeisterung irgendwelche Großgruppen). Und ganz besonders sollen die Begeisterten, o Wunder, im Kaiserreich herumgetaumelt sein. Zwar sei nicht bekannt, wieviele Soldaten "eine Parsifal-Partitur im Tornister trugen" (nicht einer, wette ich, denn die ist viel zu schwer), aber: "Etliche Bewunderer des Werkes dürften etwas Immaterielles mitgenommen haben, nämlich den Gedanken der 'Weihe', von Segnung, Auserwähltheit und Opfer in einem, den dieses Werk so suggestiv zelebriert. (...) Der kultische Geist des 'Bühnenweihfestspiels' kreuzte sich mit den jugendbewegten Idealen einer Epoche, die Jüngertum, kollektive Hingabe an eine Sache und schließlich das bedingungslose Opfer für Volk und Vaterland bis zur Hysterie propagierte." Soweit der FAZ-Feuilletonist Christian Wildhagen, nebenher Jury-Mitglied beim Preis der deutschen Schallplattenkritik und Lehrbeauftragter an der Leipziger Hochschule für Musik und Theater.

Der Parsifal? Die Mitleids-Apotheose schlechthin, die wohl pazifistischste und friedfertigste aller Opern, in der die Tötung eines Schwans als schweres Verbrechen geschildert wird? In der Gralsritter auftreten, die gemäß Textbuch und Partitur "des Heilands Werke" verrichten, Männer, "die ihr Karma abgetragen" (Stefan Mickisch) und sich verpflichtet haben, ausschließlich Gutes zu tun? Deren Titelheld nach der Rückgewinnung des heiligen Speers diese Waffe trotz aller Gefahren, in die er gerät, wie Textbuch und Musik verraten, nicht anwendet, also selber Pazifist wird? Das Werk, in dem Wagner Christentum und Buddhismus verbinden wollte, um auf eine friedliche "Regeneration" der gesamten Menschheit hinzuwirken? Die Oper, welche die Nazis am Vorabend des nächsten Weltkrieges aus ebendiesen Gründen von allen Spielplänen verbannen sollten? Mit diesem Werk wurde 1914 die Jugend, die es zu ca. 96,3 Prozent nie gehört hatte, für Krieg und Opfertod eingestimmt? Und nur die Bayreuther Blätter, deren Mitarbeiter es allesamt auswendig kannten, haben nichts mitbekommen?

Man muss schon verdammt lange die absonderliche öffentliche Meinung dieser Republik konsumiert haben und ansonsten buchstäblich nichts wissen, um dergleichen zu schreiben oder gar zu meinen. Dass der Autor am Ende des Artikels "Stefan Herheims grandiose Parsifal-Inszenierung" aus dem Jahr 2008 lobt, wo eingespielte Filmaufnahmen aus dem Ersten Weltkrieg den Anschein erweckten, "als zögen die Gralsgläubigen, frisch gestärkt durch die Feier des 'letzten Mahles' und mit Wagners Verklärungsklängen im Ohr, direkt aus dem Gralstempel in die Schützengräben", ist so folgerichtig wie eben dem Werk und der Intention Wagners gegenüber infam falsch – und vermutlich nicht einmal als historischer Vorgang zu halten. Es ist die schiere bundesrepublikanische Zeitgeistfolklore, ein Bratenriecher und Tendenzvollstrecker (oder vielleicht auch nur trendhöriger Einfaltspinsel; man soll ja nicht niedrig vom Menschen denken) lobt den anderen, es sind Kulturbeamte eines Landes, das in 60 Jahren kein einziges Kunstwerk erzeugt hat, welches zwanzig beliebige Takte des Dritten Parsifal-Aufzuges aufzuwiegen vermöchte, dafür aber unentwegt Spitzbuben, Schelme und Fatzkes produziert, die Werke wie dieses mit falschen Bedeutungen zumüllen.

Beitrag erschien zuerst auf: michael-klonovsky.de

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Benjamin Rösch

"Und euer Tisch sei ein Altar, auf dem das Reine und Unschuldige von Wald und Weide dem geopfert werden, was im Menschen noch reiner und noch unschuldiger ist.   Wenn ihr ein Tier schlachtet, sagt zu ihm in eurem Herzen: »Durch dieselbe Macht, die dich tötet, werde auch ich getötet; und auch ich werde einst verzehrt werden. Denn das Gesetz, das dich in meine Hand gab, wird einmal mich in eine mächtigere Hand geben." (Khalil Gibran)

Gravatar: wagner

Vegetaristen tun manchmal so, als würden sie Natur nur von ihrem Teller her beurteilen. Wenn man nur tierisches Leben als Leben gelten lässt, dann könnte der Satz stimmen "artgerecht ist nur die Freiheit". Aber sobald man eingesteht, dass auch Pflanzen Lebewesen sind, wird es eng: denn Pflanzen auf dem Feld und im Gewächshaus, die so dicht und so unnatürlich wie möglich, also profitabel "gehalten" werden, hätten auch gern ihre Freiheit. Keine Nutzpflanze wächst artgerecht!- Und der Einwand von Vegetaristen, man tötet nichts, "was ein Gesicht hat", führt mir sofort die Sonnenblume vor Augen. Ja, sie hat ein schönes Gesicht, aber keines wie wir Menschen. Wir ähneln eher den Nutztieren. Dennoch: ist das nicht auch Rassismus? "Wir töten nichts, was ein Gesicht hat wie wir!" - sonst aber alles? Das erinnert mich an den Kolonialismus und die Wilden, die man töten durfte im Gegensatz zu den langschädligen, den Blonden, den Herren
Ist Leben wirklich aufteilbar in essbar und nicht essbar? Oder ist das Heuchelei für ein gutes Gewissen? - Ich persönlich meine: Leben ist unteilbar, leider ist es auch Stoffwechsel und ich muss daran teilhaben durch essen - um zu leben.

Gravatar: Urselina

Schade. Ich vermutete es ginge in diesem Artikel um den wirklich größten Vegetarier und Tierfreund aller Zeiten, Adolf Hitler, aber nur Wagner kommt zur Sprache. Dabei war Hitler auch so etwas wie ein Künstler, Maler oder so.

Gravatar: Benjamin Rösch

Meine Lehrerin im Geschichte-Leistungskurs gab sich damals auch fest der Überzeugung, dass Hitler die Legion Condor nur aufstellen ließ, weil ihn die ihn darum ersuchende spanische Delegation während einer Aufführung des Ringes der Nibelungen erwischte.

Und neben der missbräuchlichen Wiederverwendung des Begriffs des Übermenschen lange nach seinem Tod, war es nach meiner Ethik-Lehrerin vor allem seine Begeisterung für Wagner, die Nietzsche zu einer zweifelhaften Person machte.

Diese unfaire Behandlung, wie auch seine Werke, machten mir ihn, Wagner, bisher sympathisch. Doch dann las ich jetzt das mit dem Vegetarismus... ;)

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