Vortrag beim Lobetaler Männerforum in Celle am 26. Februar:

Eine der bekanntesten Geschichten in den Evangelien ist die vom „reichen Jüngling“. Ein junger Mann fragt Jesus, was er Gutes tun soll, um das ewige Leben zu erlangen. Jesus fordert ihn auf, die Gebote zu halten, und er zitiert die Verbote der zweiten Tafel der Zehn Gebote: du sollst nicht töten, ehebrechen, stehlen, lügen, außerdem das Gebot der Ehrung von Vater und Mutter. Matthäus fügt noch „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ als Zusammenfassung hinzu (Mt 19,19). Die Antwort des Mannes ist bekannt: „Meister, das alles habe ich gehalten von meiner Jugend auf“ (Mk 10,20). „Was fehlt mir noch?“ wendet er sich verunsichert an Jesus (Mt 19,20). Dieser verlangt, er solle seinen Besitz verkaufen und alles den Armen geben. Dann wird er einen „Schatz im Himmel“ haben. Der reiche Jüngling ist dazu nicht bereit.

Der junge Mann ist an den Geboten der ersten Tafel gescheitert. Die der zweiten haben direkt mit unseren Mitmenschen zu tun, die der ersten mit Gott. Die zweite Tafel ruft zur Nächstenliebe auf, die erste zur Gottesliebe. An der Spitze steht dort „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“. Und diesem Gebot war der reiche Jüngling nicht gehorsam, denn er hatte offensichtlich sein Herz an den Reichtum gehängt. Geld und Wohlstand waren sein Gott.

Wir können davon ausgehen, dass sich der junge Mann tatsächlich weitgehend an die Gebote der zweiten Tafel hielt. Jesus betrachtete ihn nicht als einen Heuchler. In Mk 10,20 heißt es ja sogar, dass er ihn lieb gewann. Wir sehen hier also einen Menschen, der nicht zum Glauben durchdringt, der sich nicht der Herrschaft Jesu unterstellt, der nicht ins Himmelreich eingeht. Wie der Jüngling traurig weggeht, so ist diese Geschichte eine tragische, und Jesu Botschaft ist radikal: Jeder hängt sein Herz an etwas anderes als Gott, so dass ohne Gottes gnädiges Eingreifen niemand gerettet werden könnte.

Gerade heute sollte man jedoch eine andere Seite in der Geschichte nicht übersehen, und provozierend möchte ich auf einen wenig beachteten Aspekt hinweisen: Wohl dem Land, wohl der Gesellschaft, in der viele solcher reichen Jünglinge leben. In der sich viele Menschen an die Gebote der zweiten Tafel halten. In der das Gebot der Nächstenliebe befolgt wird. In der die Wahrheit gesagt wird, in der nicht gestohlen, betrogen und geraubt wird, in der die Ehen nicht gebrochen und Kinder vor der Geburt nicht getötet werden, in der Kinder ihren Eltern mit Respekt begegnen. Wäre das nicht ein Segen?

An jedem Kiosk Litauens ist in diesen Monaten das Journal „Kuo būti?“ (Was werden?) erhältlich. Es richtet sich in erster Linie an Schüler höherer Klassen, die über ihre Berufswahl nachdenken. Ausbildungsmöglichkeiten und Studiengänge werden vorgestellt, Universitäten, Fachhochschulen und Berufsbildungszentren haben zahlreiche Anzeigen geschaltet. Im ersten Artikel kommt Robertas Dargis zu Wort. Seit einigen Jahren ist der Bauunternehmer Leiter des Verbandes der Industriellen Litauens (in etwa mit dem BDI in Deutschland zu vergleichen). Dargis gehört zu den bekanntesten Wirtschaftsführern des Landes und ist wegen seiner klaren Analysen und innovativen Ideen auch bei Journalisten beliebt.

Auf die Frage in dem Beitrag, welches sein persönliches Credo sei, das ihn in seinem ganzen Leben begleitet, nannte Dargis nur eines: die Zehn Gebote. „Für mich ist das einfach eine Norm, damit bin ich aufgewachsen. Sie geben mir die Richtung an, der ich in meinem Leben folge. In den wichtigsten Fragen des Lebens gewissenhaft handeln und andere Menschen achten – das ist richtig und hilft immer. Sie [die Leser, also die jüngere Generation] sollten unbedingt ein Rückgrat von Werten besitzen.“

Dargis hat gewiss die zweite Tafel der Zehn Gebote im Blick. Er bekennt sich nicht offen und eindeutig zum christlichen Glauben, gehört – soweit ich weiß – keiner Ortsgemeinde an. Aus evangelikaler Perspektive ist davon auszugehen, dass er kein wiedergeborener Christ ist. Vor sieben Jahren gehörte er zu den Initiatoren und Sponsoren des Autorenwettbewerbs „Schenk Litauen eine Vision“, organisiert von einer litauischen Wochenzeitung. Bei der Preisverleihung in Vilnius im Januar 2008 äußerte er sich vor dem Publikum geradezu begeistert über eine biblische Vision des gesellschaftlichen Lebens. Solch eine hatte ich in meinem eingereichten Text skizziert. Wir vereinbarten konkret ein Treffen in Šiauliai, um diese Themen zu vertiefen. Leider ist es dazu trotz meiner Bemühungen nie gekommen.

Am kommenden Sonntag ist in Litauen Kommunalwahl. Erstmals werden die Bürgermeister in den Städten und Kreisen direkt gewählt. In der Hauptstadt Vilnius werden wahrscheinlich zwei liberale Politiker in die Stichwahl kommen: der ehemalige Justizminister Remigijus Šimašius von der „Liberalen Bewegung“, Anfang 40, und der Amtsinhaber Artūras Zuokas, Jahrgang 1968, der die Partei „Litauische Freiheitsunion–Liberale“ anführt. Šimašius ist bekennender und praktizierender Katholik. Zuokas hat sich nie so klar positioniert, zeigt aber Sympathien für den christlichen Glauben und geht auch auf die Protestanten zu. 2011 hatte er seine eigene liberale Partei gegründet, TAIP, die im vergangenen Jahr in der „Freiheitsunion“ aufging. Seinen Mitgliedern machte er mehrere Texte zur Pflichtlektüre, darunter auch einen Beitrag über Christentum und den politischen Liberalismus aus meiner Feder – wieder gespickt mit Bibelversen und biblischer Theologie. Im folgenden Jahr konnte ich vor seinen Parteileuten in Vilnius und Kaunas Vorträge zum Thema „Gottes Gesetz für Christen und Liberale“ halten.

In Klaipėda wird Vytautas Grubliauskas sicher im Amt bestätigt werden. Der Bürgermeister ist in der Hafenstadt sehr beliebt und kann auf eine erfolgreiche erste Kadenz zurückblicken. Der bekannte Jazzmusiker gehört zur „Liberalen Bewegung“. Er nimmt gerne am gemeinsamen Gebet der Pastoren der Stadt teil, hält ein Grußwort beim Willow Creek–Leiterschaftskongress in Litauen und äußert sich auch sonst nur positiv zum christlichen Glauben. Beim Festival der Hoffnung vor gut drei Jahren – einer Großevangelisation mit Franklin Graham in Vilnius – bereicherte er das Musikprogramm. 2008 nahm Grubliauskas, damals noch im Parlament, am Nationalen Gebetsfrühstück in Vilnius teil. Mein Vortrag zu Jeremia 29 („Suchet der Stadt Bestes“) sprach ihn sehr an; mit seiner Frau unterhielt ich mich am Tisch lange über Glaubensfragen.

All diese Leiter sind keine Engel. Und es gibt in der litauischen Politik und Wirtschaft auch genug zwielichtige Gestalten. Litauen hat gewiss immer noch mit zahlreichen Problemen zu ringen, Stichworte hohe Selbstmordrate, viel Alkoholmissbrauch, erschreckende Altersarmut, zu viel Emigration. Doch die Fortschritte der letzten 25 Jahre sind enorm. In nur einer Generation haben es Litauen und die baltischen Staaten in Nato, EU und Euro-Raum geschafft. Sie zählen im „Human Development Index“ zu den „höchstentwickelten“ Ländern. Die Wirtschaft wächst, die Staatshaushalte sind im Griff, Korruption und organisiertes Verbrechen gehen zurück. Litauen, Lettland und Estland ziehen in der EU nun an Portugal vorbei. Anders als die Griechen saßen und sitzen sie fleißig an ihren Hausaufgaben, schlucken auch harte Reformpolitik und sind so ein Vorbild für die Ukraine, Moldawien, Georgien.

Diese Entwicklung ist von Menschen gemacht, von vielen einfachen Arbeitern und Angestellten, von Männern wie den Genannten, und natürlich auch von Frauen, die in Litauen ebenfalls zahlreiche Führungspositionen innehaben. Derzeit wird das Land von einer Staatspräsidentin geführt, es gab eine Parlamentspräsidentin und Verteidigungsministerin. In Lettland leitet gerade eine Frau die Regierungsgeschäfte. Genannt werden muss Ingrida Šimonytė, Finanzministerin von 2009 bis 2012. Die bei Amtsantritt gerade 35-Jährige bewahrte gemeinsam mit ihrer Regierung Litauen im Krisenjahr 2009 – die Wirtschaft schrumpfte um 15%! – vor dem Bankrott. Man sorgte aber auch noch dafür, dass der Haushalt fit für den Euro gemacht wurde. Unglaublich! Die jetzige sozialdemokratisch geführte Regierung konnte die Früchte ernten.

Wie ist diese Entwicklung aus christlicher Sicht zu sehen? Wie können wir all das theologisch einordnen? Und hier kommen wir zur Geschichte vom reichen Jüngling zurück. Er wollte Jesus nicht nachfolgen; er nahm das Evangelium nicht an; er schlug die göttliche Gnade aus. Er blieb ganz in seiner Welt, er ließ sich keinen „hellen Schein“ von Gott ins Herz geben (2 Kor 4, 6), er trat nicht aus der Dunkelheit ins Licht (1 Pt 2, 9). Aber er wird wohl weiter ein äußerlich rechtschaffenes Leben nach den Geboten der zweiten Tafel geführt haben.

Wenn ein Mensch zu Gott umkehrt, von Herzen glaubt und Buße tut, sich einer Gemeinde anschließt, dann können wir sagen, dass hier Gottes besondere Gnade wirkt. Diese Gnade ist die erwählende, die nur einige Menschen zum Heil führt; sie ist übernatürlich. Sie schafft die Kirche und führt zum ewigen Heil. Der Reformator Johannes Calvin nennt in der Institutio,  seinem Hauptwerk, aber auch eine andere Art der Gnade, und wohl als erster bezeichnete er diese mit dem Begriff „allgemeine Gnade“. Denn Gott teilt sie allgemein, d.h. allen aus – wenn auch in unterschiedlichem Maß.

Auch nach dem Sündenfall sind wir noch von den Tieren unterschieden, haben Verstand und andere Fähigkeiten in Teilen bewahrt. Doch, so Calvin, „alles, was wir übrigbehalten haben, ist mit gutem Grunde Gottes Huld zuzuschreiben; hätte er uns nicht verschont, so hätte der Fall den Untergang der gesamten Natur mit sich gebracht“ (Inst. II,2,17). Das Trachten der Menschen nach Tugend zeigt, „daß die Gnade Gottes auch innerhalb dieser Zerstörung der Natur doch noch Raum hat; freilich wirkt sie nicht reinigend [wie die spezielle, rettende Gnade], sondern innerlich hemmend… So legt Gott in seiner Vorsehung der Verderbtheit der Natur Zügel an, damit sie nicht zur vollen Wirkung hervorbreche.“ (III,3,3)

Diese Unterscheidung von allgemeiner und besonderer Gnade ist biblisch gut begründet. An zahlreichen Stellen wird klar ausgesagt, dass Gott der ganzen Schöpfung und allen Menschen seine Güte zeigt. Psalm 145,9: „Der HERR ist allen gütig und erbarmt sich aller seiner Werke“. In Apg 14,17 richtet sich Paulus an Nichtjuden in Lystra: Gott hat „sich selbst nicht unbezeugt gelassen, hat viel Gutes getan und euch vom Himmel Regen und fruchtbare Zeiten gegeben, hat euch ernährt und eure Herzen mit Freude erfüllt“. Hier ist von einer unverdienten Güte Gottes – also Gnade – die Rede, die aber nicht zur Erlösung führt. Das ist allgemeine Gnade.

Wie Calvin darstellte, ist ein wichtiger Aspekt der allgemeinen Gnade das Einschränken und Begrenzen von Sünde und ihrer Folgen. Auch dem Teufel werden Grenzen gesetzt. Die Sünde steht allgemein unter der souveränen Kontrolle Gottes, und dies ist sicher eine unverdiente Gnade. Gott selbst hält seinen Zorn zurück, er ‘übersieht’ Ungehorsam, ist lange geduldig. Das letzte Gericht wird aufgeschoben, um Menschen Möglichkeit zur Buße zu geben (Apg 14,16; 17,30; Röm 3,26; 2 Pt 3,9.15). An dieser Stelle ist auch die staatliche Gewalt als ein gewisses Gnadenwerkzeug zu nennen. Denn sie hat die Aufgabe gegen das Böse vorzugehen, so dass auch Christen in Frieden leben und die Kirche ihren Dienst tun kann.

Wer 1990 das Baltikum besucht hat und heute wieder, wird aus dem Staunen nicht herauskommen. Bei meinem ersten Aufenthalt im Litauen im April 1991 war ich in leergefegten Geschäften. Dort gab es teilweise so gut wie nichts. Ein einheitlicher Grauschleier lag über dem Land. Nun sieht man neue Häuser und Fabriken, zahlreiche Geschäfte und Einkaufszentren; neue Straßen und Kirchen; nicht zu zählende Dienstleister, Vereine, Parteien; und jeder Dritte besitzt ein Auto. Fast fünfzig Jahre Kommunismus haben die natürliche Freiheit der Menschen unterdrückt und das Leben erstickt. Nun blüht es in seiner ganzen Vielfalt wieder auf.

In einem direkten Sinn ist dies auch von der Natur zu sagen. In der Sowjetunion wurde die Umwelt extrem belastet; Pestizide und andere Gifte wurden massiv eingesetzt; kaum einer nahm Rücksicht auf Gesundheitsschäden. Anfang der 90er Jahre konnte man am Šiauliaier Flughafen Öl vom Grundwasser abschöpfen. Luft, Gewässer, Boden haben sich nun erholt; weite Teile Litauens sind Naturparadiese. – All das ist neues Leben.

Christen dürfen diese Art des neuen Lebens nicht verachten. Es ist Gottes Gnade, dass es vielen, ja den meisten Menschen in Litauen nun deutlich besser als früher geht. Dass sie in Sicherheit und wachsendem Wohlstand leben. Es gibt auch in Litauen genug Unken und Schwarzseher. Die einsichtigen Historiker betonen jedoch: Noch nie in der bewegten litauischen Geschichte waren die äußeren Bedingungen für die Menschen so günstig wie heute. Wir haben kein Recht, all das Positive einfach so vom Tisch zu wischen. Leider dominieren negative Schlagzeilen unsere Nachrichten; Menschen sind notorisch unzufrieden. Als Christen haben wir darauf hinzuweisen, dass wir all das Gute im Leben und in einer Gesellschaft Gott zu verdanken haben.

So auch Paulus und Barnabas in Lystra zu den heidnischen Griechen: Er hat euch „viel Gutes getan… und eure Herzen mit Freude erfüllt“. Welchen Schluss ziehen sie daraus? Lasst es euch gut gehen und feiert schön? „Wir predigen euch das Evangelium, dass ihr euch bekehren sollt von diesen falschen Göttern zu dem lebendigen Gott…“ (Apg 14,15–17). Das Argument ist klar: Weil Gott euch bisher schon seine Güte gezeigt hat, sollt ihr ihm dankbar sein und alle Ehre geben. Ihr dürft keinen Götzen mehr hinterherlaufen, weil sie nichts Gutes bewirken. Wenn ihr schon so viel Gutes erfahren habt, dann nehmt auch die Gute Nachricht, das Evangelium von Jesus Christus, an.

Gott hat schon viel neues Leben in Litauen geschaffen. Er kümmert sich um seine Schöpfung und nutzt Christen wie Nichtchristen, um Gesellschaften und Kulturen zu bauen und zu segnen. Aber er will auch, dass Menschen zur Fülle des Heils gelangen und nicht nur irdisches Leben, sondern auch ewiges Leben mit ihm genießen. Er will nicht nur, dass wir die natürlichen Gaben dankbar annehmen; wir sollen auch das übernatürliche Leben im Glauben empfangen.

Dieses neue Leben wirkt Gott durch seinen Geist im Herzen der Menschen. Dies geschieht in erster Linie durch die verkündigte Botschaft der Bibel. Denn dort ist das Evangelium zu finden, das man ganz kurz so formulieren kann: Gott rettet Sünder. Nicht die guten Werke, nicht die Nächstenliebe, nicht die Achtung vor den Geboten Gottes, nicht religiöse Handlungen, nicht Maria und die Heiligen – Gott allein rettet, durch das Opfer seines Sohnes am Kreuz.

Im Bereich der allgemeinen Gnade handelt Gott sehr vielfältig, oft ohne uns Christen und durch das Handeln von Nichtgläubigen. Die Botschaft der besonderen Gnade ist der Kirche anvertraut. Hier will Gott durch seine Gemeinde wirken: Wir sind aufgerufen das biblische Evangelium weiterzusagen. Gott wird die von uns gesagte, erläuterte und verteidigte Botschaft dann nutzen und nach seinem Entschluss neues Leben in den Herzen schaffen.

Das Werkzeug des Heiligen Geistes ist vor allem das Wort der Bibel. Oder mit einem anderen Bild: das Wort ist wie ein mächtiges Schwert. Aber der Feind schläft nicht. In der Sowjetunion hatten die Kommunisten gleichsam eine Axt genommen und strategisch zielsicher für einen Kahlschlag gesorgt: Bibeln konnten fast gar nicht gedruckt werden. 1972 durfte die katholische Kirche in Litauen eine neue Übersetzung des Neuen Testaments herausgeben. Eine höhere Auflage war aber erst 1988 möglich. Die komplette Bibelausgabe mit AT und NT erschien erst 1995. Bis dahin hatte der eine oder andere sprachlich veraltete Vorkriegsausgaben oder war an im Westen  gedruckte und geschmuggelte Bibeln gekommen.

Heute kann jeder Buchhandlung eine Bibel gekauft werden. Doch Jahrzehnte von Bibel-, Katechese- und Evangelisationsverbot wirken nach: selbst unter den Protestanten ist die allgemeine Bibelkenntnis mitunter äußerst niedrig. Das Gebot der Stunde in den Kirchen ist einfach: die Bibel auslegende Predigt und Bibelstunden. Die Mitglieder der evangelischen Gemeinden müssen mit in den Inhalten der Bibel bekannt gemacht werden. Mein Frau Rima leitet seit fünf Jahren eine wöchentliche Bibelstudiengruppe in der lutherischen und reformierten Gemeinde vor Ort. Leider sind es fast ausschließlich Frauen, denen es nach dem Wort Gottes dürstet. Zahlreiche Bücher, gerade aus dem AT, hat die Gruppe schon durchgearbeitet. Viele haben dabei bis dahin weitgehend unbekanntes Terrain betreten – und so manches Aha-Erlebnis gehabt. Für ein breiteres Publikum ist natürlich auch Literatur hilfreich. Jüngst schloss Rima die Übersetzung des Buchs Gottes Plan – kein Zufall! Die Bibel im Zusammenhang erklärt von Vaughan Roberts ab.

Um das Evangelium weitersagen zu können, muss man es selbst begriffen haben. Dies gilt natürlich zuerst für die Kirchen, die das Evangelium in Name tragen, die evangelischen. Sie sind in Litauen eine kleine Minderheit von einem guten Prozent, vielleicht 30.000 von 3 Millionen – fast verschwindend neben etwa achtzig Prozent nominellen Katholiken. Zur reformierten Kirche, deren Mitglieder wir seit 2009 sind, rechnen sich um die 5.000 Litauer. Diese Glaubensgemeinschaft kann auf eine lange Tradition zurückblicken: 1557 gilt als Gründungsjahr.

Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft haben die Kirche beinahe ausgelöscht – in den 80er Jahren gab es keinen Pastor mehr, die lutherische Kirche lieh freundlicherweise einen aus. Die kirchlichen Strukturen sind nun wieder hergestellt, aber es gilt, das reiche theologische Erbe der Bekenntnisse wieder zu entdecken. Vor drei Jahren erschien das Zweite Helvetische Bekenntnis erstmals in litauischer Sprache. Im vergangenen Jahr arbeiteten wir intensiv an der Neuausgabe des Heidelberger Katechismus, der ebenfalls Lehrgrundlage in der litauischen Kirche ist. In diesem alten Text aus dem Jahr 1563 finden sich so manche Perlen des Glaubens wie eben auch eine hervorragende Darlegung des biblischen Evangeliums. Ein geistliches Kursbuch für die Christen im Land.

Und ein Büchlein für die reichen Jünglinge. Denn es macht gleich zu Beginn klar: Es ist zwar gut, wenn man ein äußerlich rechtschaffenes Leben führt; aber die wichtigste Aufgabe des Gesetzes, der Zehn Gebote, ist, dass wir eines begreifen: „alles vollkommen halten“ können wir nicht (Fr. 5). Wir scheitern, wir sind unfähig zum Guten, wir brauchen Gottes Rettung; und wenn wir etwas Gutes tun und erreichen, dann ist auch dies Seiner Gnade zu verdanken.

Das Evangelium gehört auch an die Hochschulen im Land. Seit 1997 sind Rima und ich mit der Litauischen christlichen Studentenbewegung (LKSB) verbunden. Wir waren als Mitarbeiter in verschiedenen Funktionen tätig. Im sechsten Jahr leite ich nun den Vorstand, der für grundlegende Entscheidungen, Strategie und die Mitarbeiter verantwortlich ist, sich auch vielfältig in die praktische Arbeit einbringt. Im vergangenen Jahr konnte die Arbeit an der litauischen Ausgabe des Glaubenskurses „Christsein entdecken“ (Christianity Explored) abgeschlossen werden: Teilnehmerheft, Leiterbuch, Video-Material. Am Markus-Evangelium entlang führt der Kurs zum Glauben hin. Ohne flach und oberflächlich zu sein geht es in den einzelnen Lektionen inhaltlich zur Sache; theologisch und didaktisch gut aufeinander aufbauend wird das Evangelium hervorragend erläutert. In den Studentengruppen setzen wir den Kurs schon eine Weile ein, und seit einigen Monaten steht er auch den Kirchen und Gemeinden zur Verfügung.

Ein glaubhaftes Zeugnis des Evangeliums ist ein gemeinsames Zeugnis. Die Evangeliumsverkündigung ist auf Einheit und Zusammenarbeit der Christen angewiesen. Ich will hier nicht auf die schwierige Frage eingehen, inwieweit und wo Kooperation mit der katholischen Kirche denkbar ist. Klar ist, dass die Evangelischen, gering an Zahl, zusammenrücken müssen. Hier gibt es in Litauen noch viel Nachholbedarf. So steckt eine Ev. Allianz noch in den Kinderschuhen oder genauer gesagt: sie ist noch nicht geboren. Aber es gibt Zeichen der Hoffnung: Mehrere Missionen und Kirchen – darunter auch die reformierte – sind Träger des Evangelischen Bibelinstituts (EBI) mit Studienzentren in Šiauliai und Vilnius. Da so gut wie alle Studierenden ihren Lebensunterhalt verdienen müssen und daher berufstätig sind, findet jeweils an einem Wochenende im Monat Blockunterricht statt. Seit 2004 unterrichte ich am EBI nicht wenige Kurse im Bereich Ethik und Dogmatik. Das EBI ist die einzige theologische Ausbildungsstätte dieser Art in Litauen und von strategisch großer Bedeutung. Hier werden die Evangeliumsverkündiger von heute und morgen ausgebildet.

Eine Frucht der Zusammenarbeit am EBI ist auch die litauische Ausgabe des New City Catechism (NCC), der in den nächsten Wochen gedruckt wird. Der NCC wurde 2012 von der Gospel Coalition in den USA und der Redeemer Presbyterian Church in New York mit Pastor Tim Keller herausgegeben. Die 52 Fragen und Antworten beruhen auf den klassischen reformierten Bekenntnissen, deren Inhalte zeitgemäß aufbereitet und sinnvoll vereinfacht wurden. Drei recht unterschiedliche geprägt evangelische Kirchen – die charismatische Wort-des-Glaubens-Kirche, unsere reformierte und die junge und dynamische City Church in Klaipėda – sind die gemeinsamen Herausgeber. Sie bekennen sich auch offiziell zum Inhalt. – Das erste von litauischen evangelischen Kirchen gemeinsam veröffentlichte ausführliche Glaubensdokument, das sich auch nach außen, an ein ungläubiges Publikum, richtet!

Litauen braucht  Investitionen aus den EU-Ländern, braucht den Beistand der Nato-Partner, es braucht eine gute Regierung und kreative, gewissenhafte Unternehmer wie Robertas Dargis und andere. Es braucht Menschen, die jüdisch-christliche Werte wie Menschenwürde, Achtung von Eigentum und Recht, Wahrhaftigkeit und Barmherzigkeit ernst nehmen und ihrem Gewissen folgen. All dies ist gut und nützlich, und Gott hat hier im Bereich der allgemeinen Gnade schon viel sichtbaren Segen, neues Leben, geschenkt.

Wieviel besondere Gnade er schenken will, wissen wir nicht. Wie viele neue Herzen er in den Menschen schafft, übernatürliches neues Leben, ist seine Entscheidung. Unsere Aufgabe als Glieder der Kirchen ist es, das Evangelium der Bibel klar zu sagen, denn Gott will dieses Wort nutzen. Die einen werden wie der reiche Jüngling „tief betroffen“ sein und „traurig“ weggehen (Mk 10,22, NGÜ), andere wie der Kämmerer aus dem Morgenland nehmen die Botschaft gerne an und ziehen ihre Straße „fröhlich“ (Apg 8,39). Das Ergebnis liegt nicht in unserer Hand, aber die Verantwortung, die besondere Gnade Gottes bekannt zu machen, ist unsere. In Litauen ist hier noch sehr viel zu tun, und wir persönlich wollen weiter unseren Beitrag dazu leisten.

Zuerst erschienen auf lahayne.lt