Mit „Wutbürgern“ allein ist auch kein Staat zu machen

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Henryk M. Broder hat in der Tageszeitung Die Welt einen wahren Hymnus auf dieses Werk angestimmt. Es handele sich um eine Abrechnung „mit der Arroganz unserer Politikerkaste“. Dem Autor komme zugute, dass er aus der ehemaligen DDR stamme: „Er hört die falschen Zungenschläge, die unsereiner für bare Münze nimmt, er riecht den Braten, noch bevor dieser zu schmoren anfängt. Er reagiert allergisch auf amtliche Erfolgsmeldungen, die ihn an die Durchhalteparolen des Zentralkomitees der SED erinnern(…).“

 

Wolfgang Schäuble und Jean-Claude Juncker werden sicher nicht zu Fans des neuen Buches von Thomas Rietzschel werden. Den deutschen Finanzminister bezeichnet der langjährige Kulturkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nämlich als den „Baron unter den Schwindlern“. Gemeint sind vor allem Schäubles Äußerungen in der Euro-Krise. Auch Juncker bekommt sein Fett weg, da der luxemburgische Christdemokrat offenbar ein lockeres Verhältnis zur Wahrheit unterhält. „Wenn es ernst wird, muss man lügen“, soll er 2011 als Vorsitzender der Euro-Gruppe gesagt haben. Den Euro-Kritiker Wolfgang Bosbach und den Hamburger Bildungsbürger Klaus von Dohnanyi bezeichnet der Autor hingegen als „ehrliche Haut“.

 

Ob einzelne Politiker „Geplünderte Demokratie. Die Geschäfte des politischen Kartells“ mögen oder nicht, muss uns nicht interessieren. Den Rezensenten im Kolumnisten hat diese Streitschrift jedenfalls auch nicht völlig überzeugt. Vielleicht hat man schon zu oft gehört und gelesen, dass unsere Demokratie durch Euro und „Rettungseuropäer“ gefährdet ist, dass die Kanzlerin ein recht robustes Machtbewusstsein hat, dass sich die politischen Parteien in Deutschland inhaltlich-programmatisch nicht mehr sehr stark voneinander unterscheiden etc. pp.

 

Man muss als Autor sicher manchmal so richtig auf den Putz hauen, damit man Gehör findet. Aber an Rietzschels Werk stört, dass Politiker allesamt – mit ganz wenigen Ausnahmen – besonders schlecht wegkommen. Sie lassen sich aber nicht alle über einen Kamm scheren. Willy Brandt und Helmut Schmidt wurden ja auch erst zu richtigen Ikonen nach ihrer aktiven politischen Zeit. Denn wenn man nicht mehr in der täglichen Verantwortung steht und Rücksichten auf die Partei, die Wähler, die Medien, die Programmatik und was auch immer zu nehmen hat, argumentiert es sich auch gleich viel freier. Und die eigene Beliebtheit steigt.

 

Und auch die vom Autor ein wenig glorifizierten „Wutbürger“ sind nicht immer die edelsten Menschen. Zahlreiche von ihnen sind auch einfach nur Egoisten und verbohrte Protestler mit ausreichend Tagesfreizeit und Sachverstand zum Demonstrieren und Leserbriefeschreiben. Es gibt gute und schlechte Politiker. Und es gibt viele vernünftige und unvernünftige Menschen in Bürger- und Protestbewegungen. Klar, das liest sich langweilig, trifft aber die Wahrheit. Ein Bestseller ließe sich aufgrund dieser Erkenntnis jedoch nicht schreiben.

 

In seinem Nachwort äußert Rietzschel eine ernste Sorge, die sich nicht so einfach vom Tisch wischen lässt. Er ist der Meinung, dass Demokratie im Euro-Raum immer weiter abgebaut wird und wir uns in Richtung der vereinigten autoritären Staaten von Europa bewegen. Der Autor befürchtet, dass „das politische Kartell im Namen des Wachstums Hand an die Demokratie legt, indem es mit den Vereinigten Staaten von Europa einen Block schaffen will, der autoritär gesteuert werden müsste. Damit würden wir dann wirklich das letzte Pfund verspielen: die Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft.“

 

Ob die Deutschen aber wirklich so bereitwillig Abschied nähmen von den vermeintlichen Segnungen einer Gesellschaft, die auf Konsum und Wachstum basiert, muss mit einem dicken Fragezeichen versehen werden. Der Feingeist Rietzschel wünscht sich dies jedenfalls . Dabei wedelt er etwas zu viel Weihrauch um die Häupter der angeblich neuen Anarchisten und bürgerlich demokratischen Zeitgenossen, die zum Aufstand gegen die politische Entmündigung „durch das Kartell der Parteien“ blasen. Dass die Parteien in unserem Land zu viel Macht und Einfluss haben – zum Beispiel im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen – steht wohl außer Frage. Allerdings braucht man zum Regieren eines Landes Wahlen, Parteien und Politiker. Mit „Wutbürgern“ allein ist nämlich auf Dauer kein Staat zu machen.

 

Thomas Rietzschel: Geplünderte Demokratie. Die Geschäfte des politischen Kartells. Paul Zsolnay Verlag: Wien 2014. 189 Seiten. 16,90 Euro. ISBN 978-3-552-05675-6

 

 

 

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: FDominicus

"Aber an Rietzschels Werk stört, dass Politiker allesamt – mit ganz wenigen Ausnahmen – besonders schlecht wegkommen. Sie lassen sich aber nicht alle über einen Kamm scheren. Willy Brandt und Helmut Schmidt wurden ja auch erst zu richtigen Ikonen nach ihrer aktiven politischen Zeit. "

Das ist wirklich ein gelungener April Scherz. Gerade Willy Brandt und Helmut Schmitt auszunehmen ist einfach "gelungen"

Ich gebe Ihnen Recht, man kann sie nicht über einen Kamm scheren. Und ich sagen Ihnen auch genau wer die Ausnahme(n) sind.

Genau diejenigen die gegen jeden Bailout von Banken gestimmt haben, gegen jeden Rettungsschirm und gegen den ESM und nun suchen Sie die Nadel im Heuhaufen.

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