Lenin-Bände neu erwerben

Die Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg beschert mir ein Gefühl, mit dem ich als ehemaliger peripherer Untertan des sowjetkommunistischen Imperiums nicht gerechnet hätte: eine gewisse Hochachtung vor Lenin.

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Wenn man sich die Hysterie und Verzweiflung der deutschen Offiziellen (auch der kurzzeitig Untergetauchten) nach dem Diktat von Versailles vor Augen hält und daneben die Amoklaufbereitschaft der führenden Bolschewiken nach dem "Raubfrieden" von Brest-Litowsk, kann man die Nervenkraft und den Schneid Lenins nur bewundern, der sagte: Wir zahlen jeden Preis für die Revolution, auch wenn sie nur in einem russischen Rumpfgebiet stattfindet, und dann holen wir uns alles wieder zurück. Er war ja keineswegs unangefochten unter seinen Spießgesellen, sie hätten ihn als Landesverräter an die Wand stellen können (Trotzkis Stimme verschaffte ihm wohl die rettende Mehrheit). Auch im Volk besaß Lenin zu dieser Zeit keinerlei Rückhalt; es war nicht so, dass man in Russland auf ihn gewartet hatte, wie die spätere Propaganda suggerierte, im Gegenteil, er galt als dubioser Geselle mit unklarer Legende, womöglich ein deutscher Agent, der dem Kaiserreich die Ostfront vom Halse schaffen und Russland aus dem Krieg lösen sollte (was ja durchaus zutraf), und auch seine ersten öffentlichen Auftritte hinterließen wenig Eindruck. Er handelte damals buchstäblich unter Einsatz seines Kopfes, aber kalt bis ans Herz. Es war falsch, dass ich meine Lenin-Bände beim postrealsozialischen klar-Schiff-Machen anno 1990 weggeschmissen habe; ich werde einige davon neu erwerben müssen.

Beitrag erschien auch auf: michael-klonovsky.de

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Adorján Kovács

Lenins zutreffende Sicht des Messens mit zweierlei Maß, heute zu beobachten an der sog. Ukrainekrise:

"Die englischen Bourgeois haben ihr 1649, die Franzosen ihr 1793 vergessen. Der Terror war gerecht und berechtigt, als die Bourgeoisie ihn zu ihren Gunsten gegen die Feudalherren anwandte. Der Terror wurde ungeheuerlich und verbrecherisch, als sich die Arbeiter und armen Bauern erdreisteten, ihn gegen die Bourgeoisie anzuwenden. Der Terror war gerecht und berechtigt, als er angewandt wurde, um eine ausbeutende Minderheit durch eine andere ausbeutende Minderheit zu ersetzen. Der Terror wurde ungeheuerlich und verbrecherisch, als man daran ging, ihn dazu anzuwenden, JEDE ausbeutende Minderheit zu stürzen… Die internationale imperialistische Bourgeoisie hat in „ihrem“ Krieg 10 Millionen Menschen gemordet und 20 Millionen zu Krüppeln gemacht, in einem Krieg, der darum geführt wird, ob die englischen oder die deutschen Räuber die ganze Welt beherrschen sollen. Wenn unser Krieg, der Krieg der Unterdrückten und Ausgebeuteten gegen die Unterdrücker und Ausbeuter, in allen Ländern eine halbe oder eine ganze Million Opfer kostet, so wird die Bourgeoisie sagen, die Opfer ihres Krieges seien berechtigt, die unseres Krieges aber verbrecherisch. … Die Repräsentanten der Bourgeoisie begreifen wohl, dass … der Sturz der Sklavenhalterherrschaft [Anm.: in den USA] es wert war, dass das ganze Land lange Jahre des Bürgerkriegs, einen Abgrund von Zerstörung, Verwüstung und Terror, diese Begleiterscheinungen eines jeden Krieges, auf sich nahm. Jetzt aber … können und wollen die Repräsentanten und Anwälte der Bourgeoisie ebensowenig wie die Reformsozialisten, die von der Bourgeoisie eingeschüchtert worden sind und vor der Revolution Angst haben, nicht begreifen, dass der Bürgerkrieg notwendig und gerecht ist."

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