Lebensrecht: Grenzen des Denkbaren

Vom Ende her gedacht hat jedes ungeborene Kind ein Lebensrecht. Aber was steht am Anfang?

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Beim Thema Lebensrecht stoße ich immer mal wieder an Grenzen, die es schwer machen, den eigenen Überzeugungen treu zu bleiben. Wenige andere Themen eignen sich so wenig für Pauschalierungen. Natürlich: Bei einer Abtreibung wird ein Kind getötet – Punkt! Als Katholik kann man keiner Abtreibung zustimmen, will man sich nicht mit halbgaren Argumenten über die Empfindungsfähigkeit von Embryonen und ähnlichen Ausreden von sogenannten Ethikern und Philosophen herausreden. Gott schafft durch die Zeugung des Kindes ein neues menschliches Leben und anstatt ihm die Entscheidung zu überlassen, ob dieses Kind geboren wird, sprechen andere Menschen dieses Recht ab.

Vom Ende her gedacht ist das richtig, und ich bin fest überzeugt, dass (nach offiziellen Zahlen) rund Hunderttausend Abtreibungen in Deutschland einen Skandal darstellen, der den Vergleich mit dem Holocaust nicht zu scheuen braucht. Vergleich hinken immer, aber wenn hier legalisiert und organisiert jedes Jahr mittlere Städte getötet werden, Abtreibungen die dritthäufigste Todesursache in Deutschland sind, dann müssen dramatische Begriff her, um uns aus der Lauheit herauszureißen, dem Geschäft der Abtreibung die Maske von der tödlichen Fratze zu reißen. Wie gesagt: Vom Ende her gedacht!

Am Anfang einer Abtreibung stehen aber auch neben den ungeborenen Kindern Menschen, deren Motivation man nicht einfach außer acht lassen kann. Sicher, wenn jemand ausreichend verroht ist, zu behaupten, eine Abtreibung sei doch keine große Sache, dann fällt es schwer, dafür Mitgefühl zu zeigen. Aber abgesehen davon, dass eine solch abgebrühte Einstellung sicher auch Ursachen hat, vermute ich da doch eher eine Minderheit. Meine Überzeugung: Die meisten Frauen, die sich zu einer Abtreibung entscheiden, werden das nicht wollen, sie sehen nur keinen anderen Ausweg. Ob man die Sorgen als legitim betrachtet ist eine wiederum sehr persönliche Einstellung. Ich selbst habe sicher auch schon mal gesagt, dass es doch nicht sein kann, dass ein Kind nicht leben darf, weil es gerade nicht so in die Lebensplanung der Mutter oder der Familie passt.

Aber andererseits, wer bin ich, dass ich beurteilen kann, was in einer jungen Frau vorgeht, die vielleicht gerade ihre Ausbildung angefangen hat, noch in der Schule ist, studiert – ein Kind wirft dann alle Planungen, alle Träume über den Haufen. Vom Ende her gedacht hat das ungeborene Kind ein Recht auf Leben. Aber am Anfang steht die junge Mutter mit ihren Sorgen? Oder was, wenn der Vater verschwunden ist, die werdende Mutter alleine bleibt, sich die Familie von ihr abwendet? Was, wenn sich herausstellt, dass ein Kind mit einer Behinderung in ein ohnehin schon schwieriges Umfeld geboren werden soll? Vom Ende her gedacht haben auch diese ungeborenen Kinder ein nicht zu bestreitendes Recht auf Leben. Aber am Anfang steht die Mutter oder die Familie mit ihren Sorgen, noch dazu in einem gesellschaftlichen Umfeld, das Abtreibungen in solchen Fällen nicht nur als legitim sondern als geboten ansieht.

Zum Glück gibt es Einrichtungen wie die Aktion 1000plus, die sich um solche Frauen und Familien kümmern und die eine recht hohe “Erfolgsquote” haben, das Leben der Kinder zu retten, indem den Müttern in ihren Notlagen geholfen wird. Ich darf an dieser Stelle vielleicht auf ein von mir im Papsttreuen Podspot geführtes Interview mit dem Projektleiter von 1000plus, Kristijan Aufiero, verweisen, der erläutert, wie der Verein arbeitet.

Und trotz allem kommt man immer wieder an seine Grenzen, wenn man darüber nachdenkt, wie eine Abtreibung zu beurteilen ist. So bin ich gestern auf eine Überschrift gestoßen, die mir den Atem stocken lässt: Die nigerianischen Bischöfe: “Die vergewaltigten Frauen sollen nicht abtreiben”. In dem Zenit-Bericht geht es um Frauen und Mädchen in Nigeria, die durch islamistische Terroristen von Boko Haram entführt und vergewaltigt wurden. Massenvergewaltigungen führen zu massenhaften ungewollten Schwangerschaften. Ich kann mir als Westeuropäer und als Mann nicht mal vorstellen, welche Höllenqualen diese Frauen durchmachen mussten. Mir fehlt regelmäßig die Fähigkeit, diese Terroristen noch als Menschen zu betrachten, ihnen noch Rechte, die über das eines Rinds oder Schweins hinausgegen, zugestehen zu wollen.

Und von diesen Tieren in Menschengestalt ein Kind zu erwarten? Ich bin nicht in der Lage, über eine Abtreibung, zu der sich eine Frau in dieser Situation entscheidet, zu urteilen. Und trotzdem, nach einem tiefen Durchatmen: Die gezeugten Kinder haben das Recht zu leben, sie haben das Recht, geboren zu werden, geliebt zu werden wie jedes andere Kind auch. Massenabtreibungen, die nun gefordert werden, sind kein zivilisiertes, geschweige denn ein christliches Mittel, mit der Situation umzugehen. Zenit zitiert die Erklärung der Seelsorgekommission der nigerianischen Bischofskonferenz:

„Die Kinder sind die unschuldigen Opfer von Verbrechen, die an ihren Müttern verübt wurden.“ So sei es unmoralisch, sie für die Sünden ihrer Väter zu bestrafen durch „verdrehte Ideologien“, wie die Abtreibung, die die Bischöfe als „Todesstrafe“ bezeichnen.

Vom Ende her gedacht, darum komme ich nicht herum, ist das richtig. Ich hätte den Begriff der “Todesstrafe” nicht gewählt, weil er die betreffenden Mütter plötzlich in die Rolle eines Richters oder Henkers drängt, wo sie doch Opfer sind. Es mag dabei aber auch darum gehen, aus christlicher Sicht deutlich zu machen, dass auch Opfer nicht zu Tätern werden dürfen, so nachvollziehbar die Gründe dafür auch sein mögen. Die Bischöfe appellieren an den Glauben der Frauen an Gott, der sie stärken werde … und mir geht unwillkürlich durch den Kopf: “Das sagt sich leicht vom Bischofssitz aus!” Und trotzdem weiß ich, dass die nigerianischen Bischöfe Recht haben. Ein erneutes Unrecht wird das erlittene Unrecht nicht ungeschehen, nicht besser machen.

Weiter schreibt Zenit:

Schließlich fordert die nigerianische Bischofskonferenz eine Verpflichtung ein zur „Umsetzung aller Mittel, um die Erholung, Rehabilitation und soziale Wiedereingliederung der Opfer zu unterstützen“. Dabei wandten sie sich an die nigerianische Regierung, soziale Einrichtungen und christliche Basis-Gemeinden, um die Frauen zu unterstützen, die nach den Vergewaltigungen durch Terroristen schwanger geworden sind.

Solche Einrichtungen können mindestens mal körperliche und finanzielle Not lindern, auch Rückendeckung geben gegen eine Gesellschaft, die den Frauen womöglich noch feindselig gegenübersteht. Aber sie sind nicht dabei, wenn die Mütter die Kinder aufwachsen und das Gesicht dem eines Vergewaltigers ähnlicher werden sehen.

Es ist gut, dass sich die Bischöfe aus Nigeria dieses Themas annehmen. Denn vom Ende her gedacht engagieren sie sich auch für das Leben der ungeborenen Kinder. Sie haben das Recht auf Leben und Liebe, und es besteht kein Zweifel, dass sie dieses Recht in keinem geringeren Umfang haben als Kinder, die aus einer liebevollen Ehe entstehen. Und trotzdem fehlte mir der Mut, eine der betreffenden Frauen auf den Codex Iuris Canonici Can. 1398 hinzuweisen, der besagt, dass “wer eine Abtreibung vornimmt, […] sich mit erfolgter Ausführung die Tatstrafe der Exkommunikation [zuzieht].” Vom Ende her gedacht, ist diese Regel sinnvoll … aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Gottes Barmherzigkeit nicht größer ist als das.

Man mag einwenden, dass es doch hier um Sonderfälle geht, die man nicht verallgemeinern dürfe. Das ist auch nicht mein Ziel, im Gegenteil: Ich wende mich generell gegen eine Verallgemeinerung. Denn noch einmal: Vom Ende her gedacht bin ich überzeugt, dass jedes gezeugte Kind das Recht hat zu leben. Am Anfang steht aber die Mutter, der Vater, die Familie, und wenn wir uns – in Extremfällen wie denen in Nigeria genau so wie in sozialen Indikationen wie es sie in Deutschland gibt – ihnen, mit ihren seelischen Schmerzen und materiallen Sorgen nicht zuwenden, ist die erste Überzeugung nur ein Lippenbekenntnis.

Beitrag erschien auch auf: papsttreuerblog.de

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Waldgänger (e.B.) aus Schwaben

Lieber Herr Honekamp,
Frauen, die nach einer Vergewaltigung schwanger sind, oder aus anderem Grund ungewollt schwanger sind, oder Frauen, die ein behindertes Kind erwarten, stehen am Anfang eines Kreuzwegs, der relativ leicht oder sehr schwer sein kann.

Die Kirche kann ihnen keinen anderen Rat geben, als Jesus nach zu folgen. Vom Anfang her gedacht!


Davon zu trennen ist die Frage der Schuld. Diese ist unterschiedlich schwer nach den Umständen.

Gravatar: Papsttreuer

Sehr geehrter Herr Dr. Köhler,

wenn ich den Eindruck hinterlassen haben sollte, Abtreibungen in Deutschland mit Vergewaltigungen in Nigeria rechtfertigen zu wollen, dann müsste ich mich aber heftig falsch ausgedrückt haben. Zustimmende Rückmeldungen, die mich bislang auch aus Lebensrechtskreisen zu dem Thema erreichen, lassen mich aber annehmen, dass das nicht der Fall ist.

Ich bin allerdings entschieden der Meinung, dass auch Abtreibungen in Deutschland (in der Tat statistisch fast vollständig ohne medizinische oder kriminologische Indikation) nicht pauschal zu bewerten sind. Es geht darum, das Leben der Kinder zu retten, 1000plus ist darin sehr erfolgreich. Die orientieren sich aber - mit dem Ziel, die Kinder zu retten - an den Sorgen der Mütter, die sich an sie wenden.

Gottes Segen!

Gravatar: Dr. Bruno Köhler

Lieber Herr Honekamp,

Sie wollten die Sache vom Anfang her betrachten. Warum tun Sie es dann nicht?

Die hunderttausend Abtreibungen in Deutschland mit den vergewaltigten Frauen in Nigeria zu rechtfertigen, halte ich für weit hergeholt. Der Großteil der Hunderttausend Abtreibungen in Deutschland ist sicher nicht mit Vergewaltigung zu begründen. Und ich wage zu bezweifeln, ob bei den hunderttausend Abtreibungen die Behinderung des Kindes die Hauptursache war. Wenn Sie also die Sache vom Anfang her betrachten wollen, dann müssen Sie sich fragen, warum überhaupt Frauen heute noch schwanger werden, wenn sie gar kein Kind wollen, wo es doch unzähliche Verhütungsmethoden und - mittel gibt.

Und kommen Sie mir jetzt bitte nicht dem "bösen Vater". Väter haben - auf ausdrücklichen Wunsch der Frauenlobby - gar keine Mitspracherecht, ob ihr Kind abgetrieben wird oder nicht.

Gravatar: Freigeist

In China arbeitet man mit Hochdruck am Designer-Baby. Bis dies gelingt, wird es noch viele viele Abtreibungen geben. Was nicht passt wird abgetrieben werden. Die Technik werde wir dann später einkaufen, aus China. Das ist die neue Welt der Gen-Technik. Dazu gebe ich ausdrücklich keine moralische Bewertung ab.

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