Jesus und “Whataboutism”

Jesus soll der Begründer des “Whataboutism” sein? Nein, Jesus wäre ein Gegner des “Whataboutism”, denn er relativiert nicht die eine Schuld gegen die andere, sondern lässt im Gegenteil beide im Raum stehen, verweigert die Verurteilung eines Ungerechteren durch anscheinend Gerechtere.

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Arprin ist ein libertärer Blogger, den ich immer mal wieder in meiner Wochenendlektüre aufführe, der sich womöglich selbst wundert, warum ich das eigentlich tue. Schließlich bezeichnet er sich bereits in seinem Webseitentitel als “liberalen Atheisten ohne Rücksicht auf religiöse oder politische Gefühle”. Man könnte meinen, mit so jemandem müsste ich regelmäßig “über Kreuz” liegen, was ich aber hinsichtlich seiner politischen und libertären Einstellung tatsächlich kaum tue. Dennoch ist er als Atheist natürlich in für mich wesentlichen Belangen anderer Meinung. Ich denke aber, das sollte einen nicht davon abhalten, sich gegenseitig wertzuschätzen. Liberalismus und Libertarismus sind für mich ein Ergebnis der Vernunft, und an der Stelle, an der Religion unvernünftig wird, hat sie ihre Berechtigung verloren (was ein Atheist womöglich als Beweis gegen die Religion ansehen wird, was aber nur daran liegt, dass er einen etwas verengten Begriff von Vernunft hat … aber lassen wir das, darum soll es hier gar nicht gehen).

In einem aktuellen Beitrag schreibt arprin über den Effekt des “Whataboutism” – das muss man erst mal erklären. Es geht einfach gesprochen darum, dass gerade im politischen Umfeld die Neigung vorherrscht, berechtigte Vorwürfe mit Gegenvorwürfen zu beantworten. “What about …” heißt frei übersetzt “Und was ist mit …”. Der Trick, wie er auf dem Blog wiedergegeben wird, geht so:

Als Oskar Lafontaine vor nicht allzu langer Zeit in einer Talkshow auf die Mauertoten angesprochen wurde, lautete seine Reaktion: Was ist mit den Drohnenmorden? Was ist mit den Toten im Mittelmeer?

Es wird also ein nicht existierender Zusammenhang hergestellt, der den moralischen Vorwurf über ein Fehlverhalten entkräften soll. Flapsig könnte man Herrn Lafontaine auf so eine Einlassung antworten: “Ja, was ist mit den Drohnenmorden? Nichts ist damit, jedenfalls haben US-Drohnen keine DDR-Flüchtlinge erschossen.” Das System funktioniert natürlich auch nur bei in etwa als gleichwertig betrachteten moralischen Verfehlungen. Den Vorwurf eines Mordes zu kontern mit “Und was ist mit Deiner Lüge?” geht ins Leere. Niemand ist aber auch so dumm, einen solchen “Whataboutism” anzuwenden – in aller Regel findet sich auf politischer und internationaler Ebene schon ein adäquater Gegenvorwurf – es gibt wohl keine Nation, die nicht irgendwann in ihrer Geschichte mal “daneben gelegen” hat.

Soweit so nachvollziehbar und wohl auch dem einen oder anderen schon untergekommen. Arprin stellt nun aber Jesus als den Begründer des “Whataboutism” dar. Und das Beispiel, das er anführt, klingt in der Tat verdächtig danach. Er bezieht sich nämlich auf die Geschichte der Ehebrecherin, die vor Jesus gebracht wird, der der wütenden Menge entgegenhält: “Wer von Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!” – der Satz ließe sich auch interpretieren als “Und was ist mit Euren Sünden?”

Der atheistische Blogger interpretiert wie folgt:

Seine Reaktion war aus mehreren Gründen falsch. Erstens hätte auch jemand, der, rein theoretisch, frei von Sünden ist, kein Recht dazu, eine Ehebrecherin zu steinigen. Zweitens ist sein Argument kein Argument gegen die Steinigung von Ehebrechern, sondern gegen jede Form von Bestrafung – da jeder Mensch schon mal gesündigt hat und deshalb kein Recht hätte, andere zu bestrafen. Die richtige Reaktion wäre gewesen: “Ehebruch ist unmoralisches Verhalten, aber es geht nur die Ehepartner was an, nicht die Kirche oder den Staat. Moses war ein tyrannischer Diktator, hört nicht auf ihn. Außerdem sollten Folter und die Todesstrafe grundsätzlich abgeschafft werden.” Aber das fiel ihm nicht ein. Stattdessen erfand er den Whataboutism. Schade!

Aber ist das so, ist Jesus mit dieser Geschichte der Erfinder des “Whataboutism”? Hält er dem wütenden Mob tatsächlich nur ihre eigenen Sünden vor, oder ist da mehr?

Mir scheint, hier liegt eine Fehlinterpretation vor, was Jesus hier eigentlich gemeint hat. In der Tat hat Jesus sich an keiner Stelle deutlich gegen die teilweise archaischen Regelungen des Alten Testaments gewandt. Er hat nicht direkt gesagt: “… ich aber sage Euch, steinigt nicht mehr!” Was er getan hat ist, Barmherzigkeit zu predigen, insofern sollte klar sein, dass Jesus durchaus etwas gegen Steinigungen einzuwenden hatte. Im Vordergrund stand aber hier nicht so sehr die Art der Bestrafung, es hätte auch eine Verbannung aus der Mitte der Gesellschaft sein können, sondern das “moralisches Urteil” über die Frau und ihr Vergehen. Darin genau liegt der Unterschied auch zu anderen “Verbrechen”, die normalerweise einer staatlichen Gerichtsbarkeit unterliegen. Diebstahl – um nur ein Beispiel zu nennen – ist eine moralische aber auch eine gesetzliche Verfehlung. Dabei liegt als Grundlage wohl eher die moralische Verfehlung zutage, auf deren Allgemeingültigkeit man sich geeignet hat, sodass hier auch gesetzliche Regelungen “ziehen”.

Demgegenüber ist der Ehebruch in der Tat eine Angelegenheit, die außer den Betroffenen – ich möchte hinzufügen: inklusive Familie, Freunde, Bekannte, das kann ein weites Feld von Betroffenen werden, und Gott selbst! – niemanden etwas angehen. Dass also der Ehebruch als moralische oder von mir aus religiöse Verfehlung weltlicher Gerichtsbarkeit unterlag war eher ein Ergebnis der Verquickung von (jüdischer) Religion und Politik. Nebenbei lässt sich das Beispiel in dieser Hinsicht als ein Aufruf zur Trennung von Staat und Religion lesen. Hier war das moralische mit dem gestzlichen Urteil vermengt, die Gesellschaft hatte das “Recht”, die Frau zu steinigen. Diesen Zusammenhang löst Jesus also im Vorbeigehen auf (ganz generell ein Novum des christlichen Glaubens war die Trennung von Staat und Religion, auch wenn das in der Geschichte nicht immer durchgehalten wurde).

Wer ist aber der Richter über moralische Verfehlungen, wenn es nicht der Staat und nicht die Gemeinschaft ist? Es ist Gott selbst, der ohne Schuld ist. Ein moralisches Urteil zu fällen, jemanden in der Weise zu verurteilen, ihn aus der Gemeinschaft vollständig auszuschließen, so etwas steht nur Gott zu. Insofern führt auch der Satz von arprin “Natürlich traute sich keiner, einen Stein zu werfen, und die Frau wurde verschont.” in die Irre. Es geht nicht darum, dass die Menschen mundot gemacht wurden, sondern dass sie eingesehen haben, dass sie kein derartiges Urteil über diese Frau fällen dürfen. In der Bibelstelle heißt es dazu: “Als sie seine Antwort gehört hatten, ging einer nach dem anderen fort, zuerst die Ältesten.” (Johannes 8,9a) Offenbar ist es Johannes wichtig, darauf hinzuweisen, dass es die Ältesten sind, die sich zuerst zurück ziehen. Vielleicht ein Zeichen der Weisheit gegen die ungestüme Jugend?

Jesus versucht also nicht die Sünden der Männer gegen die der Frau aufzuwiegen (“Und was ist mit Euren Sünden”) sondern zu klären, wer zu einem moralischen Urteil überhaupt befugt ist: Der, der ohne Sünde ist! So weise waren die jüdischen Männer offenbar schon, dass sie begriffen, dass das nur einer sein kann. Und der spricht auch ein – wenn auch etwas anderes, zukunftsgerichtetes – Urteil: “Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!” (Johannes 8,11b). Der Tatbestand der Sünde, des moralischen Fehlverhaltens, der Entfernung von Gott durch den Ehebruch wird nicht in Abrede gestellt, er wird auch nicht aufgewogen gegen die Sünden der Anderen. Dieser Tatbestand bleibt und verlangt nach Umkehr, einer Umkehr zu der auch die anderen aufgefordert sind, was sie hoffentlich selbst auch eingesehen haben.

Jesus wäre ein Gegner des “Whataboutism”, denn er relativiert nicht die eine Schuld gegen die andere, sondern lässt im Gegenteil beide im Raum stehen, verweigert die Verurteilung eines Ungerechteren durch anscheinend Gerechtere. Und was bedeutet das im Hinblick auf den um uns Raum greifenden “Whataboutism”? Hat ein Oskar Lafontain nun Recht oder nicht? Er hat Unrecht, weil er versucht, das gesetzliche Unrecht der Mauertoten reinzuwaschen, zu relativieren mit moralischen Aussagen über ganz andere Sachverhalte, wie dem moralischen Dilemma der toten Flüchtlinge im Mittelmeer. Über so etwas trifft Jesus in seinem Umgang mit der Ehebrecherin gar keine Aussage.

Darf eine Gesellschaft ein rechtstaatliches Urteil zum Beispiel über einen Mord fällen? Ja sicher! Sollte eine Gesellschaft rein religiöses Fehlverhalten gesetzlich ahnden? Besser nicht! Kann dann eine Gesellschaft eine moralische Verurteilung einer Person aufgrund eines Verhaltens fällen, dass keiner gesetzlichen Normierung unterliegt (oder unterliegen sollte)? Nein, kann sie nicht – das ist das, was uns das Beispiel Jesu zeigt!

Zuerst erschienen auf papsttreuerblog.de

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