Fremdgesteuerte Selbstbestimmung

Heute kann sich die Generation meiner eigenen Kinder überhaupt nicht mehr vorstellen, dass man unter solchen Umständen heiratete und Kinder in die Welt setzte. Will jemand unerkannt ein Heer an Arbeitsameisen heranzüchten, familiär nicht festgelegt, frei verfügbar und überall einsetzbar?

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Worte wie Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Freiheit und Individualismus haben in unserem westlichen Kulturkreis Hochkonjunktur. Grenzen durch Sitte und Moral, durch Tradition und Brauchtum oder gar durch Normen scheinen nur noch dazu da, hinweggewischt zu werden. Doch wie frei sind wir heute wirklich?

Schaue ich auf das Leben meiner Großeltern zurück, so stelle ich fest, dass mein Großvater als immer wieder zwischenzeitlich arbeitsloser Buchbinder mit 24 Jahren meine damals einundzwanzigjährige Großmutter geheiratet hatte. Offensichtlich hielt ihr Umfeld das junge Paar für selbstbestimmt genug, dass es für eine neue Familiengründung mit Kindern reichte. Ehe war damals ein bedeutender Schritt der Emanzipation, der nicht jedem vergönnt war. Im günstigsten Fall stand unterstützend die sie umgebende Großfamilie bereit. Eingebettet in die festgefügten Traditionen ihrer ländlichen Umgebung konnten sie diesen Schritt wagen. Der Freiraum dafür genügte. Ihre Ehe hielt über 50 Jahre bis zum Tod meiner Großmutter, die drei Kindern das Leben schenkte. Sie überstand die Stürme von Weltwirtschaftskrise, Krieg und Kriegsgefangenschaft. Der Friede, der zwischen diesen beiden Menschen herrschte, prägt mich noch heute.

Schon schwieriger gestaltete sich die Eheschließung meiner Eltern. Sie heirateten nach dem 2.Weltkrieg mit 26 Jahren und bewohnten mit ihren beiden Kleinkindern zwei Zimmer. Die große Küche mit Kohleherd und Kaltwasserhahn, sowie das Plumpsklo auf dem Flur teilten sie sich mit einem weiteren jungen Paar, das ebenfalls zwei kleine Kinder hatte und die beiden weiteren Zimmer der ursprünglichen Vierzimmerwohnung belegte. Als meine Mutter mit mir, dem Ältesten, schwanger war, gab sie ihren Beruf als Säuglingsschwester auf. Unhinterfragt galt mein Vater als kaufmännischer Angestellter mit seinem recht bescheidenen Gehalt als Alleinernährer der Familie. Jahre später verdiente meine Mutter ein wenig dazu und wir Kinder verbrachten die Werktage bei unseren Großeltern, die damals zwei Stunden Fußmarsch von uns entfernt wohnten. Ein Auto war unvorstellbarer Luxus.

Heute kann sich die Generation meiner eigenen Kinder überhaupt nicht mehr vorstellen, dass man unter solchen Umständen heiratete und Kinder in die Welt setzte. Hat inzwischen irgendjemand klammheimlich die Schraube der Erwartungen an Konsum, wirtschaftlicher Sicherheit und Wohlstand höher gedreht? Will jemand unerkannt ein Heer an Arbeitsameisen heranzüchten, familiär nicht festgelegt, frei verfügbar und überall einsetzbar? Schon ich selbst heiratete als Beamter auf Lebenszeit erst mit 29 und unser erstes Kind kam im zwar hochverschuldeten, aber eigenen Reihenhaus zur Welt. Waren meine drei Jahre jüngere Frau und ich von höheren Wirtschaftsmächten schon so weitgehend manipuliert durch ein neues Sicherheitsdenken? Schon unsere wesentlich längeren Ausbildungszeiten zum Lehrer waren außerhalb der Vorstellungen meiner Eltern und Großeltern, auch wenn sie sonst unsere, wohl von ihnen unbewusst übernommene Ansicht teilten, dass ein fester Beruf oder ein sicherer Arbeitsplatz für Familie und Kinderkriegen unerlässlich sei.

Mediale Meinungsmacher sorgten schleichend über Jahrezehnte hinweg dafür, dass dank Verhütung und Schwangerschaftsabbruch die freie sexuelle Betätigung als Entspannungstechnik gegen den Arbeitsdruck mehr und mehr aus der Ehe ausgelagert wurde. So rutschte die Eheschließung in die Generation der Dreißigjährigen entgegen unserer biologischen Natur. Im Zeitalter der Vollautomatisierung braucht die Wirtschaftselite immer weniger Leute und schon gar nicht deren allzu häufigen Nachkommen, die man auf diese Weise geschickt drosselt. Verfügten in alten Zeiten Grund- und Gutsbesitzer, Zünfte, Gilden, Magistrate, Meister und Pfarrer darüber, wer heiraten durfte und wer nicht, so haben wir heute diese Feudalherrschaft zurück über einen globalen Kapitalismus, der allerdings nicht mehr offen anordnet, sondern heimtückisch die dafür nötigen Rahmenbedingungen durch überlange Ausbildungszeiten, Praktika und Zeitarbeitsverträge schafft, über die Medien die Gefühle von existentieller Unsicherheit hochhält und das moderne, an Karriere orientierte Leben als Selbstbestimmung tarnt.

Der derzeitige Höhepunkt dieser Entwicklung ist das Angebot an junge Frauen, ihre Eizellen einfrieren zu lassen und erst in noch höherem Alter, falls überhaupt noch, schwanger zu werden. Jugendliche Arbeitskraft scheint wertvoller als Kinderwunsch und wenn man dafür nicht mehr taugt, schwebt der Geist vom angeblich frei bestimmten Sterben unter dem Deckmantel der Sterbehilfe über dem ausgepumpten Arbeitssklaven namens Mensch.

Zuerst erschienen auf winfried.schley.over-blog.net

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Freigeist

In früheren Gesellschaften heiratete man hauptsächlich, um Sex haben zu dürfen. Heutzutage kann man Sex ohne Ehe haben. Sehr bequem, das heutige Leben. Warum es ändern?

Gravatar: siggi

Wenn Modernisierung weniger Arbeitskräfte bedeutet, dann müsste Wirtschaft nun in bester Situation sein. Warum schreien sie nach mehr Arbeitskräften - nun Frauen? Wollen sie Betriebsbordelle da öffnen? Frauen sind einfacher als Männer, verweisen die auf den Familienanhang - wollen mehr Lohn. Keine Familien, kein höherer Lohn. Ist der Arbeitsmarkt BRD weg, geht man in die Schwellenländer. Politik sind wir - die Bürger, sollten das nicht zulassen; wählen wir eine ALTERNATIVE.

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