Existieren lassen

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Diese Sätze musste ich einfach abschreiben! Sie drücken das aus, wonach ich seit langem als gemeinsame Grundlage unserer derzeitigen Gesellschaft suche. Wie oft habe ich schon zu hören bekommen, dass ich als Christ ja dieser oder jener Meinung sein könne, aber ich solle sie doch bitte nicht anderen aufdrängen. Gegen dieses Killerargument fühle ich mich machtlos; denn damit kann man selbstherrlich sogar die Meinung vertreten, dass Wasser bergauf läuft, weil ich auch als Christ beim besten Willen nicht leugnen kann, das Wasser halt bergab fließt.

Da schreibt doch ein gewisser Dr. med. Stephan Sahm tatsächlich: „Die Voraussetzung des sozialen Miteinanders einer jeden Gesellschaft ist ein grundsätzliches Wohlwollen, das sich ausdrückt in der Formulierung, es ist besser, der andere existiert, als dass er nicht existiere. Diese Grundsatzentscheidung geht jeder sozialen Gemeinschaft voraus“. (LEBENSFORUM SPEZIAL, Sonderausgabe 2013, Seite 19)

„Da muss doch einfach jeder zustimmen!“, jubelte ich beim ersten Lesen. Doch mein Umfeld sieht anders aus.

Wie oft habe ich schon zu hören bekommen, dass dieser oder jener besser nicht geboren wäre. So ungeliebt und herumgestoßen aufgewachsen könne man ja nur in einer asozialen oder gar kriminellen Karriere enden. Ist dieses Ereignis eingetreten, kann man natürlich rückwirkend (!) eine solche Ursache festlegen, unabhängig davon, ob sie tatsächlich zutrifft oder nur vom Betrachter in diesen Zusammenhang gesetzt wird. Oft aber habe ich in meiner Zeit als Lehrer erlebt, wie gerade Kinder aus schwierigsten Verhältnissen mit unbändiger Lebenskraft ihrem Schicksal trotzten und das obendrein mit langfristigem Erfolg. Zugegeben, in den letzten Jahren meines Berufslebens machte ich diese Beobachtung immer seltener; denn Kinder aus schwierigsten Verhältnissen wurden immer mehr schon vor ihrer Geburt abgetrieben und zum Produkt der Kosmetikindustrie verarbeitet. Das gesellschaftliche Mitgefühl gehört selbstverständlich der Mutter, der man so ein Schicksal ja nicht zumuten könne. Kaum jemand scheint zu spüren, dass es so etwas wie eine gesellschaftliche Mitverantwortung mit dieser Mutter geben könnte. Kind weg, Problem weg, aus den Augen, aus dem Sinn. Als Gesichtscreme gegen das Altern ist das Kind ja immer noch irgendwie da.

Dass dieses vermeintliche Einzelschicksal zum Massenphänomen mit Milliardenumsatz und vielen Arbeitsplätzen geworden ist, wird verdrängt. Aus den letzen dreißig Jahren fehlen der Bundesrepublik etwa fünf Millionen abgetriebene weibliche Embryonen, die als mögliche Mütter in der Bevölkerungsstatistik ausgeklammert sind, wenn Politiker den Kinderschwund beklagen und nach Ursachen unserer immer mehr überalternden Gesellschaft forschen lassen. Sie kommen in wissenschaftlichen Untersuchungen einfach nicht vor, so perfekt ist die Tabuisierung schon fortgeschritten.

Wie oft habe ich schon zu hören bekommen, dass dieser oder jener besser schon tot wäre. So sterbenskank oder so alt oder so hilflos oder so arm, da habe man doch ein Recht auf Selbsttötung oder zumindest auf Sterbehilfe und  die zum Teil gewerbliche Beihilfe dazu sei ein reiner Akt der Nächstenliebe für einen würdigen Tod. Kaum jemand hinterfragt, dass hier andere maßgeblich und tatkräftig mitentscheiden, dass es besser sei, der andere existiere nicht. Niemand kann von außen abschätzen, wie frei die geäußerte Entscheidung des Betroffenen wirklich ist. Man maßt sich dieses Urteil einfach an, weil es bequemer ist. Kranker weg, Sterbender weg, Hilfloser weg, Armer weg, Problem weg, aus den Augen, aus dem Sinn.

Von einer Gesellschaft, die jedem die ihm zustehende Achtung vor seiner Existenz zubilligt, haben wir uns klammheimlich und verstohlen immer weiter entfernt. Die Todeskultur von der vorgeburtlichen Kindstötung bis zur Euthanasie hat uns schon längst im Griff. Ich fürchte, Dr. Sahm kommt mit seiner Ansicht, dass es besser ist, der andere existiert, als dass er nicht existiere, schon zu spät. Diese Grundsatzentscheidung einer jeden sozialen Gemeinschaft haben wir, ohne es noch groß zu wahrzunehmen, schon längst verworfen.

 Beitrag erschien zuerst auf: winfreid.schley.over-blog.net

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Winfried Schley

Religionen sind Wertesysteme unabhängig von einer Staatsform. Demokratien sind Abstimmungssysteme, bei denen eine Mehrheit die Macht für sich beansprucht. Ob diese Macht gut oder schlecht ist, liegt außerhalb des demokratischen Aufbaus. Sie ist in der Moral der Herrschenden begründet. So kann z.B. eine Monarchie oder eine Diktatur durchaus gerechter und sozialer sein, wenn der Machthaber es ist. Umgekehrt kann eine Demokratie ungerechter und unsozialer sein, die die Mehrheit ihre ureigenen Interessen gegenüber Minderheiten rücksichtslos durchsetzt.
Dass z.B. in der BRD Kinder ein Armutsrisiko sein können, liegt z.T. auch daran, dass die Mehrheit der heutigenWähler kinderlos ist und ihr das Bewusstsein für die nötigen Gesetze zur Nachkommensicherung dieser Gesellschaft fehlt. Folglich bleiben passende Gesetze von den wählbaren Parteien vernachlässigt, weil sie nicht mehrheitsfähig sind und daher keine machtsichernde Wirkung entfalten. Demokratie an sich ist also noch lange nicht gut an sich.

Gravatar: Papsttreuer

Bei Papst Benedikt (ich meine in der Enzyklika "Deus caritas est", da bin ich aber nicht sicher, möglicherweise hat er selbst dort auch einen anderen Autor zitiert) habe ich den Satz gelesen: "Liebe bedeutet, zu wollen, dass der andere sei" - die Formulierung ähnelt der von Dr. Sahm, allerdings mit dem Unterschied, dass der Papst damit eben die Liebe "definiert" während Dr. Sahm davon ausgeht, dass es sich hierbei um die Grundlage der Gesellschaft handelt. Aus beidem zusammen wird ein Schuh: die Liebe ist die Grundlage der Gesellschaft, oder sollte es jedenfalls sein, wenn sie tragfähig sein soll. Erst dort, wo die Liebe wegfällt, kann ein Mensch tatsächllich über sich oder andere sagen, sie seien besser nicht geboren worden.

Das ist erstmal nicht zwingend christlich, man kann auch als Atheist so argumentieren - was aber meist nicht passiert, weil man damit eben den anderen das Recht zu sein zugestehen müsste, wozu man sich nicht zwingen lassen möchte (schon gar nicht mit einer an einen liebenden Gott erinnernden Formulierung).

Gravatar: Raymond Walden

"Gegen dieses Killerargument fühle ich mich machtlos; denn damit kann man selbstherrlich sogar die Meinung vertreten, dass Wasser bergauf läuft, weil ich auch als Christ beim besten Willen nicht leugnen kann, das Wasser halt bergab fließt."

Und die Christen behaupten sogar, Jesus sei übers Wasser gelaufen!
Sie können freilich nicht begreifen, - unter solchen Voraussetzungen - dass die "christlich-jüdischen Wurzeln" unserer Gesellschaft längst ins Museum gehören. Sie versagen schlicht und einfach bei der Bewältigung der vielen Probleme. Religion ist eine der Ursachen, wie man gerade in diesen Tagen wieder niederschmetternd vorgeführt bekommt.
Denn Religionen sind aus sich heraus unfähig zur Demokratie - auch in Deutschland.

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