Eingeübte Selbstverliebtheit

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Ich las es beim inzwischen verstorbenen Kinderpsychiater Wolfgang Bergmann. Jungs haben in unserer Gesellschaft ein Problem. Sie sind die Grössten und ganz alleine. Nein, es geht mir jetzt nicht darum, dass einige von ihnen mit Übergewicht und Arthrose kämpfen, weil ihnen die Bewegung fehlt und ihre Hände vom übermässigen virtuellen Spielen stark beansprucht sind. Das Hauptproblem dieser Buben innerhalb ihrer perfektionistischen Kleinfamilienstruktur sind die überbehütenden Mütter. Im Extremfall werden sie zum Partnerersatz genommen. So erlebt vor einigen Tagen im Zug. Ein Paar betritt mit dem (anscheinend einzigen) Sohn das Abteil. Der Sohn setzt sich neben die Mutter. Der Mann sucht anderweitig einen Platz. Den ganzen Weg über bearbeitete die Mutter den Sohn, sprich, sie redete ununterbrochen auf ihn ein. Ich zweifle keine Sekunde daran, dass diese Mutter das Beste für ihren Nachwuchs wollte. Sie entwickelte eine wahre Leidenschaft darin, für ihren Sohn vorauszuplanen, Varianten zu besprechen, ihm schöne Erlebnisse zu bescheren. Etwas unwillig und im Habitus der erlernten Hilflosigkeit unterhielt sich der Bub, der körperlich bald ein junger Mann werden würde, mit seiner ach so wohlmeinenden Mutter. „Intrusion“ – das Stichwort schwebte förmlich über dem Abteil. Überbehütung und Übergriffigkeit sind Zwillinge. Ich merkte, wie sich in mir der Magen zusammenzog.

Jetzt mag man einwenden: Die Mütter meinen es doch nur gut mit den Buben. Ist diese Art aufzuwachsen denn nicht der Vernachlässigung vorzuziehen? Zweifelsohne ist eine drogensüchtige Mutter, die ihr Kind vernachlässigt, eine schwere Hypothek für ein Leben. Doch scheint sich am anderen Ende des Spektrums eine ähnliche Tragödie abzuspielen. Ich versuche es noch ein wenig plastischer zu machen: Der Bub bewohnt sein eigenes Zimmer. Er verfügt über die eigenen elektronischen Geräte. Er besitzt einen Kasten voller Spiele und Markenkleider. Er kann das essen, was ihm schmeckt, und das zu den Zeiten, in denen er die Lust dazu verspürt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er schon mal seine Wäsche selbständig besorgt hat. Auch nicht, dass er für die Familie ein Essen einkaufte und auf den Tisch stellen musste. Wahrscheinlich hat er noch nie eine Wanderung in dichtem Schneetreiben gemacht, die ihn an den Rand der Kräfte brachte. Er musste auch noch nie auf jüngere Geschwister Rücksicht nehmen, die krank im gleichen Zimmer lagen. Wenn er einen Wunsch oder eine Idee äusserte – nein, soweit kam er gar nicht! Die Mutter hat ihm die Ideen immer schon vorgedacht und allfällige Hindernisse aus dem Weg geräumt.

Überspitzt? Wahrscheinlich. Doch ich treffe immer wieder solche Settings an: Essen, was dem jungen Herrn beliebt; spielen, so viel er will; mithelfen – nicht mal im Traum in den Sinn gekommen; Wünsche – werden vor- und übererfüllt; Aufgaben – nur mit Ach und Krach und unter grossem elterlichen Leiden; zu Fuss zu einer Veranstaltung gehen – das hat es noch nie gegeben; täglich unter Widerstand ein Instrument üben – man freut sich schon, wenn er sich überhaupt daran setzt. Wer lebt wessen Leben? Wer entwickelt wen? Wer erfüllt wessen Bedürfnisse? Auf diese Art werden Kinder herangezogen, die vor allem auf sich selber schauen. Ihre Ideen zählen. Ihre momentanen Bedürfnisse dominieren. Ihre Weh-weh-chen bewegen den Kosmos der Kleinfamilie. Doch es fehlt das, was einen Mann zum Mann macht: Für etwas kämpfen (zeitlich, kräftemässig, körperlich), die Freude einer Eroberung erleben, für etwas sorgen, hart nachdenken und um ein Resultat ringen. Selbstverliebtheit wird eingeübt. Welche Möglichkeiten haben sie kennengelernt, wenn die Adoleszenz kommt? Bedürfnisse werden sofort gestillt. Der Kick muss sofort sein. Die besten Jahre werden mit exzessiver Selbstbeschäftigung und –betäubung verschwendet.

Szenewechsel. Heute Morgen stand ich vor einem grossen Gymnasium der Stadt. Scharen aufgeregter Eltern zogen an mir vorbei. In diesen Momenten schreibt eine Schar von Sechstklässlern Prüfungen in Mathematik und Deutsch. Was mich überwältigte, war das Ritual vor dem Gebäude. Eltern tragen den Kindern Taschen zum Gebäude; pausenlos fahren Autos vor, um die Zöglinge direkt vor dem Portal abzusetzen. Die letzten sechs Monate sind sie in den Lernstudios auf die Prüfung getrimmt worden. Alle Störungen wurden vermieden, die Sprösslinge wurden für das Nadelöhr präpariert, das über ihre Zukunft entscheiden sollte. Das war ein ruhiges, fast unheimliches Treiben, das sich da abspielte. Das Projekt Kind muss gelingen. Dafür greift man tief in die Tasche. Manche werden heute das erste Mal im Leben richtig gefordert sein. Sie spüren den Erwartungsdruck der Eltern. Ja, auch ich stand dort. Alle Anlagen, die ich eben beschrieben habe, sind auch in mir angelegt.

Ein betagter Mann an Krücken kommt auf mich zu. „Sind Sie Aufsichtsperson?“ Ohne die Antwort abzuwarten fährt er fort, indem er mir direkt ins Gesicht blickt: „Meine beiden Söhne haben damals auch die Prüfung hier geschrieben. Doch sie sind selber hingegangen und haben die Prüfung auch selber geschrieben.“ Er hebt seinen Stock und schüttelt den Kopf. „Diese Eltern. – Sie sind wohl eine Lehrperson.“ Mit dieser Bemerkung wünschte er mir einen schönen Tag und ging weiter. Der Mann hat genau erfasst, um was es geht.

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