Eine Reise nach Deutschland

Die Reise zu der 2. Liszt-Biennale nach Thüringen wurde für einen Frankfurter zu einem Offenbarungserlebnis.

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Eine knappe Woche in Thüringen hat mich ziemlich überrascht. Ich stehe quasi immer noch unter Schock. Auf nagelneuen Autobahnen, durch eine herrlichgrüne, laubwaldgeprägte, ungewohnt dünn besiedelte Landschaft bin ich per Auto zunächst in eine traditionsreiche Musikstadt gelangt, wo, wie ich von zwei Tischnachbarn erfahre, der Sondershäuser Verband sein 150-jähriges Gründungsjubiläum begeht, ungestört übrigens. Schon das ist bei einer Verbindung bemerkenswert. Am nächsten Tag gelange ich in eine berühmte Universitäts- und Kulturstadt. Beim Tanken muss die Windschutzscheibe gereinigt werden, denn es scheint hier zum Glück noch Insekten zu geben. Dann eine weitere Irritation, etwas stimmt nicht: Das Hotelpersonal ist deutsch. Ich bin noch skeptisch, aber auch das Personal an der Bar und das Zimmerpersonal ist deutsch. Dann das multikulturell andressierte Aufatmen, gottseidank: Ein Kellner im Restaurant ist Inder. Ich bin trotzdem sehr verwirrt. Wo bin ich hier? Ein Ausflug in eine Kulturstadt im Werratal bestätigt den Eindruck, dass ich mich mitten in Deutschland befinde, wo tatsächlich Deutsche leben. Man ist übrigens weltoffen, wie es heute heißt, denn in den Orchestern spielen viele Ostasiaten; ich spreche mit Russen, Ungarn, Italienern, die hier studieren oder arbeiten. Es fehlt lediglich eine bestimmte Klientel. Vermisse ich etwas? Ich beobachte weiter, schalte meine kritisch-negative westdeutsche Besserwisserei ein. Es gibt natürlich auch hier Plattenbauten, es gibt auch hier rot- und blaugefärbte Haare, es gibt leider auch hier brachiale Tattoos an delikaten Stellen. Aber die Leute sprechen fehlerfrei deutsch und vermitteln keinerlei Aggressivität. Ein dem Frankfurter ungewohnter Friede. Es ist Pfingsten. Schauen wir auf die Gebildeten: Den äußerlich verkommensten Eindruck unter ihnen machen westdeutsche Touristen. Die Thüringer sind - offenbar bewußt - festlich gekleidet. Auch bei den Konzerten fällt mir eine feierliche Haltung auf. Kultur wird gewürdigt. Huster verlassen leise den Konzertsaal. Das ist mir aus Frankfurt völlig unbekannt. Ich bin ganz offensichtlich in einem anderen Land. Die Hauptstadt schließlich erkenne ich nach 20 Jahren nicht wieder, sie hat sich herrlich gemacht. Im Marien-Dom sind die Menschen bei der Besichtigung still, offenbar erziehen die Thüringer die Touristen - ich vergleiche das mit den Zuständen im Kölner Dom. Die naive Nachlässigkeit, mit der hier wertvollste Kunstwerke offen zugänglich sind, erschüttert mich. Ich spreche mit einer Angestellten der Dominformation darüber. Ja, man wisse, dass das in Zukunft vielleicht nicht mehr so geht. In einem Antiquariat der Altstadt treffe ich einen Dissidenten der DDR, der - in der Stadtpolitik außerordentlich kundig - die vom Westen lancierte Rückkehr der DDR 2.0 beklagt. Auch hier ist schon die Umdefinition des öffentlichen Raums im Gange, Thälmann kann stehen bleiben, Bonifatius muss weg. Mir wird schummrig: Ich muss etwas essen. Kein Problem, es braucht ja nicht Döner, es darf auch deutsche Küche sein, in einem schönen Gärtlein. Bei Bier aus Apolda. Auch hier sehe und höre ich nur Deutsche, Dialekte, die die große Vielfalt innerhalb dieses Volkes bezeugen. Unser Beinahe-Bundespräsident Navid Kermani wäre darüber empört: Hier könnte er sich nie „pudelwohl“ fühlen. Das Parkhaus verlasse ich nach Begleichung eines lächerlichen Betrags. Am nächsten Tag das letzte Konzert der Biennale in einem als Tagungszentrum genutzten Schloß. In den Gängen Bilder, gemalt von einer vielbegabten Frau, die früher einmal mit einem dann ausgebürgerten kommunistischen Liedermacher zusammenlebte, der heute als reaktionär gilt. So ändern sich die Zeiten.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: RA Martin Schmid

Lieber Herr Prof.,

danke für die aufmunternden Worte, ernst gemeint.

Sie sind NICHT gescheitert, aber lassen wir das, ich kenne die Faktoren, die Sie ansprechen.

Im KATHOLISCHEN Glauben? So kann man sich irren ...

Ich wollte mich an sich heute von dieser hp abmelden, aber aufgrund Ihres postings bleibe ich vielleicht doch noch als links-kritischer Geist dabei.

Insofern heute herzlich
Ihr
Schmid

Gravatar: Adorján Kovács

@RA Martin Schmid
Auch wenn Sie wirklich so empfinden, kann geleistete Arbeit niemals umsonst gewesen sein. Denken Sie an die, denen Sie geholfen haben. Übrigens ist mir „Scheitern“ nicht unbekannt.
Mein Optimismus gründet keineswegs im Geld, in dem ich nach Ihrer (falschen) Überzeugung schwimme, sondern v. a. im katholischen Glauben.

Gravatar: RA Martin Schmid

@ Prof. Kovacs

Schon nicht unrichtig.

Aber:

Wer als Krüppel sich eingestehen muss, dass letztlich alle Arbeit des Lebens umsonst war, darf der nicht etwas verbittert sein?

Woher nehmen Sie Ihren Optimismus? Ich glaube, den tiefen Grund zu ahnen, sage das aber nicht öffentlich.

Und: Ok, wenn Sie es sich schwer machen wollen ...
sofort akzeptiert. Sie denken immer, ich habe was gegen Sie. Oder dass Sie was für meinen zerstörten Körper "könnten". Natürlich nicht. Sie irren.

@ Bähr
Ich argumentiere aus meinem Blickwinkel des letzten Deutschen Kanzlers, der aus MEINER Sicht fähig war, dieses Schiff zu lenken:

Helmut Schmidt.

<<Diffamierung>> ist übrigens eine Bewertung und daher nicht wissenschaftlich und auch nicht einer Argumentation zugänglich, denn in der Wissenschaft zählen nicht Bewertungen, sondern voll belegbare (§ 186 ZPO) Tatsachen, wie ich in Tausenden von hochgradig komplizierten Prozessen - insbesondere von Gutachtern aus dem Fachbereich des Prof. Kovacs, wie gesagt, aus dem Fachbereich, nicht von ihm selbst - lernen musste und durfte.

Gravatar: Christian Dirk Bähr

@RA Martin Schmid

Sie argumentieren vergangenheitsorientiert. So läßt sich schwerlich der Eindruck vermeiden, Sie möchten lediglich diffamieren wollen.

Gravatar: Christian Dirk Bähr

@ Max Moritz

Zustimmung!

In dem Zusammenhang denke ich oft an... SEZESSION.

Gravatar: Adorján Kovács

@RA Martin Schmid
Ich kritisiere Aspekte des „universitären Betriebs“ seit langem, lehne aber solche Pauschalierungen, wie Sie sie bringen, ab. Ebenso finde ich es nicht in jedem Fall sinnvoll, dorthin zu gehen, wo es besser ist. Das machen ja die gerade in unser Land strömenden sogenannten „Schutzsuchenden“ zuhauf. Ethisch gesehen ist es richtiger, aber auch schwerer, zu versuchen, die Verhältnisse im eigenen Bereich zu verbessern. Schließlich höre ich bei Ihnen immer so eine Verbitterung heraus, die Ihre Kommentare trübt. Sie haben auch schon in früheren Kommentaren angedeutet, woran das liegen könnte. Nur: Ich kann nichts dafür.

Gravatar: Der Unverwüstliche

Hallo Herr Kovács,

nach meinem Kommentar zu Ihrem letzten Artikel wunderten Sie sich über meinen Optimismus. Haben Sie nun auch eine Ahnung vom Licht am Ende des Tunnels?

Ich habe mal einem Kellner in Erfurt gesagt, dass dort keine Zelte und sogar kaum Kopfwindeln zu sehen seien. Er antwortete, die würden sich dort "nicht so wohl fühlen".

Da es aber hüben wie drüben offensichtlich noch nicht ausreicht, um einer überwältigenden Mehrheit die Augen zu öffnen, braucht ganz Deutschland wohl noch wesentlich mehr Rapetiere. Dann können die Irren lallen: "Meiner tut nix, der will nur arbeiten" bis - grabsch/hack/bumm. Allen, deren Augen schon offen sind, kann man derweil nur empfehlen, Abstand zu Rapetieren und ihren Hätschelfreaks zu halten; wenn dies nicht zu vermeiden ist, entsprechende Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Ein Trost sollte sein, dass bei diesem Lern- bzw. Auslesevorgang nur wenige mit Hirn an Seele, Leib und Leben Schaden nehmen werden. Ich hoffe zumindest, dass unter den wohl weiterhin nicht mehr vermeidbaren Opfern möglichst nur Doofe sind.

Mehr Mitgefühl mit den Doofen? Ja, von mir aus - obwohl - davon haben sie doch schon mehr als genug.

MfG

Gravatar: RA Martin Schmid

Verehrter Herr Egon Bahr,

ich glaube schon, dass ich den Herrn Professor verstanden habe. Auch wenn ich nicht promoviert und habilitiert bin, weil ich den universitären Betrieb tief verabscheue und froh war, da endlich weg zu können.

Also: Ganz übel !

Und:

Ein schlichter Vorschlag. Wer - mutmasslich, es kann kaum anders ein ... - im Geld schwimmt und wem es woanders sooooo gut gefällt ... also ich würde mich dann nach dorthin verdünnisieren.

Ebenfalls westdeutsche Grüße

PS: Ich schreibe wenigstens mit offenem Visier und dass Sie Egon Bahr heissen, könnten Sie vielleicht Ihrem Friseur verkaufen ... mir nicht.

Gravatar: Egon Bahr

Werter @RA Martin Schmid,

Ihre Anregung soll was sein? Ein Vorschlag, eine Anleitung, ein 'dann verschwinde halt von hier' ?
Ich glaube sie haben nichts verstanden. Oder evtl. gerade doch...? Das wäre ganz von Übel.

'westdeutsche' Grüße

Gravatar: RA Martin Schmid

Wenn es dort so schön und in Frankfurt so schlimm ist: Einfach nach dorthin umziehen! Sie können sich das finanziell garantiert leisten.

Gravatar: Johannes Klinkmüller

Offensichtlich gibt es in Thüringen noch etwas wie Stil.
Kein äußerer. – Innerer, der außen noch erwünscht ist.

Verständlich, und man spürt es richtig, wie wohl Sie sich gefühlt haben!
Ein bemerkenswerter Beitrag.

Gravatar: Leser

Danke für die freundlichen Worte über Thüringen, das geht runter wie Öl. Alles Gute!

Gravatar: Max Moritz

Auch ich kenne dieses deja-vu Gefühl, wieder in eine Welt ein zu tauchen, die mir im Westen Deutschlands immer mehr verloren gegangen vorkommt.

Es hat, glaube ich, auch was damit zu tun, das die Ossis noch zu natürlichen Reaktionen fähig sind, die man uns Wessis über 40 Jahre systematisch abtrainiert hat, u.a. durch die Methode des rein materiellen Überfressens in Verbindung mit einem ideologischen, von den USA ausgehenden Zeitgeist:

Die Fähigkeit , die Wahrheit zwischen den Zeilen zu lesen, Zusammenhänge zu erkennen aus dem, was da gerade Nicht steht, eine Eigenständigkeit im Denken und in der Wesensart zu bewahren, auch und gerade gegen widrige äußere Umstände, das erlebe ich als bei den Ossis viel stärker ausgeprägt.

Ich erlebe diese Gegenöffentlichkeit zum Mainstream, im Osten wie gesagt deutlich zahlreicher und selbstbewusster im Auftreten, als eine Art zweiter Wiedervereinigung von innen her.
Die erste Wiedervereinigung brachte uns 1989 eine äußere Demokratie und Freiheit für Gesamt-Deutschland, bei der allerdings viele ohne Geld und Status in den vergangenen 25 Jahren auf der Strecke geblieben sind.
Der Osten zelebriert im Moment aber ein Wiedererwachen und Erstarken unserer inneren Freiheit, auch dieses mal wieder gegen die Obrigkeit und einen lähmenden Massen-Opportunismus aus einem linken Zeitgeist heraus.

Ich kann nur hoffen, das uns dieser Prozess wieder zu einem echten, individuellen Selbstbewusstsein und zu einem authentischen, nationalen Zusammengehörigkeitsgefühl führen wird aus dem heraus wir Deutsche unser Schicksal wieder selbst in die Hand nehmen, in Verbundenheit mit den uns umgebenden europäischen Nachbarvölkern.
MM

Gravatar: Duffy

Ein Freiluftgehege für Deutsche: die Mauer muß wieder her!

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