Ein Gesamtkunstwerk in der Heide

Kann man als Schweizer sich so in die Lüneburger Heide verlieben, dass man sein Lebenswerk darin errichten will? Man kann. Heute ist es zu besichtigen.

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Vor den Toren Hamburgs liegt eines der erstaunlichsten Gesamtkunstwerke, die Europa zu bieten hat- die Kunststätte Bossard.

Schöpfer sind Johann und Jutta Bossard, die in jahrzehntelanger Arbeit ihren Besitz in ein atemberaubendes Ensemble von Architektur, Gartenbau, Landschaftsgestaltung, Bildhauerei, Töpferei und Malerei umgewandelt haben. 

Ursprünglich war es ein drei Hektar großes  Heidegrundstück bei Jestenburg, das von Johann Bossard 1911erworben und mit einem Atelierhaus bebaut wurde. Schon zu dieser Zeit plante er ein gesellschaftsutopisches Gesamtkunstwerk im Sinne der Lebensreformbewegung. Kunst, Natur und Lebensweise sollten fern der Großstadt miteinander in Eintracht gebracht werden. Gebäude, Gartenanlage, Kunstobjekte, Baukeramik, Wandmalerei und Raumausstattung sind in ihrem ursprünglichen Zusammenhang erhalten. Es fehlen nur ein paar Details: Zwar konnte der Gemüsegarten nach alten Plänen und Fotos rekonstruiert werden, es fehlen aber die Tiere, die von dem Künstlerehepaar gehalten wurden.

Zu verdanken ist die Erhaltung der Anlage Jutta Bossard, die ihren Mann um 46 Jahre überlebte und dafür sorgte, dass sie nach ihrem Tod in eine Stiftung umgewandelt wurde. Heute ist es ein Ort der Begegnung, der Erbauung und der Reflexion. Jutta Bossard, mehr als dreißig Jahre jünger als Johann, war seine Schülerin an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Im Juli 1926 wollte sie sich eigentlich nur von ihrem Kunstprofessor verabschieden, um nach Paris zu gehen, als er sie in sein Atelierhaus in der Heide einlud und um ihre Hand anhielt.

Das Haus hatte er seit fünf Jahren zu einem Kunstwerk gestaltet, mit bemalten Wänden, bemalten Möbeln, selbst gestalteten Fußböden,Teppichen und Wohntextilien, mit geschickt integrierten Plastiken. Das alles scheint auf die junge Frau einen solchen Eindruck gemacht zu haben, dass sie ihre eigenen Pläne aufgab, um Ehefrau und Mitarbeiterin dieses Mannes zu werden. Sie scheint eine komplexe Persönlichkeit gewesen zu sein. Es gibt ein Gemälde von Johann Bossard: „Die drei Gesichter meiner Frau“. Ihre Handschrift ist überall in der Anlage zu erkennen.

Bald nach ihrer Hochzeit begannen die beiden mit dem Bau eines von Johann geplanten Kunsttempels. Das Geld dafür bekam Bossard durch eine Werbeschrift „An meine Freunde“, in der er sein Vorhaben eindringlich beschreibt. Dabei musste wirtschaftlich vorgegangen werden. Die Klinker sind nur dritte Wahl, einen Vorbau, der später angefügt wurde, mauerten Johann und Jutta selbst, um das Geld nicht für einen Handwerker ausgeben zu müssen.

Wer heute im Kunsttempel sitzt, ist einfach überwältigt, weil ganz von Kunst umgeben. Alle Wände, Decken, den Böden sind bemalt, mit Keramiken versehen oder mit Mosaiken gefliest.Selbst wenn man Spätexpressionismus nicht so mag, wie ich und wenig Neigung zu weltanschaulichen Kunstwerken hat, kann man sich des Gesamteindrucks nicht entziehen. Besonders wenn die Nachmittagssonne durch die bemalten Fenster scheint, hat man das Gefühl, in den Farben zu schweben. Es ist den vielen Farben zu verdanken, dass das Ganze eine gewisse Leichtigkeit behält und nicht erdrückend wirkt.

Im Garten bekommt man einen guten Eindruck von Improvisationstalent der beiden Künstler. Der Film über die Entstehung der Kunststätte wird in einem Holzschuppen gezeigt, der an einem Wochenende aus allen möglichen vorhandenen Bauabfällen gebaut wurde. Es wurde wirklich alles verwendet. Das Dach der Hundehütte ist aus Asbest, das, inzwischen mit reichlich Moos bewachsen, wie ein Naturmaterial aussieht. Auf dem ganzen Gelände sind Plastiken verteilt. Besonders beeindruckend sind die in einer Reihe aufgestellten Werke, die zum Kunsttempel hinführen.

Bei der Betrachtung der Landschaftsgestaltung mit Stein-und Baumkreisen aus Fichten konnte ich wieder ein gewisses Gefühl der Düsternis nicht unterdrücken. Von der heiteren Heide, die einst hier dominierte, ist nichts mehr zu spüren. Das Grundstück hätte auch in der Schweiz liegen können. Vielleicht war es auch als Reminiszenz an Johann Bossards Heimat angelegt worden.

Jutta Bossard hat vor ihrem Tod eine Sondererlaubnis erwirkt, auf dem Grundstück bestattet werden zu dürfen. Heute liegen beide Bossards unter einem kreisrunden Findling am Ende eines schmalen Fichtenganges. Sie können in Frieden ruhen, denn ihr Geist lebt in der Kunststätte fort- zur Freude aller Besucher, die bereichert heimfahren.

Zuerst erschienen auf vera-lengsfeld.de/2016/08/21/ein-gesamtkunstwerk-in-der-heide/

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Gernot Radtke

@ qedt – Reisen Sie wohl, Sie ‚Sisu‘ für Witwen und Waisen! Auch hiesig steht an große Jagdt, die atemberaubendt. Der edle Wilde zieht ein. Ach, zög‘ er doch weiter nach Norden!

Gravatar: qed

Danke für die formidable Beschreibung der Amalgierung von Körper und Geist, wie sie auch die großen östlichen Meister als Perfektionierung des Selbst in den Kampfsportarten vielfach anstrebten. Auch den Finnen ist das nicht fremd, ist doch die größte Tugend, "Sisu" zu haben, ein unübersetzbares Wort, das Geisteshaltung, Beharrlichkeit und Kampfesmut selbst in aussichtslosen Situationen zu hochwohllöblicher Einheit verklärt. Derlei haben sie im Winterkrieg 39/40 hinlänglich bewiesen und einer wie Simo Häyhä hatte gewiß "Sisu" (für unsere jungen Freunde, die es mit dem geschriebenen Wort nicht so haben, als Clip):
https://www.youtube.com/watch?v=BAAcJsboTEA
Es wird Sie nicht wundern, verehrter Radke, daß mir das finnische Volk sympathisch ist. Sisu.
Womit über meine Passion alles gesagt wäre. Meine Hochachtung gegenüber der Gattin will ich noch ausdrücken, ich neige mehr zum Vergrämen solcher, so daß ich hier keinerlei hormoninduzierte Neurotizismen zu ertragen habe.
So, jetzt muß ich los, es dämmert. Falls Sie im anstehenden Herbst den klagenden Ruf der ziehenden Nonnengänse vernehmen: Das ist u.a. die Schuld von Heikki, Vesa, Timo und mir, die sie heute abend zu Witwen und Waisen machen...

Gravatar: Gernot Radtke

@ qed – Wie ich Ihren noch ganz den Geist Bossardscher Kunstwelten atmenden jüngsten Reflexionen entnehmen darf, vereinen Sie in glücklichster Fügung und Wohltemperiertheit den Sägen- und den Axterotiker in sich ("zärtliches" Zähneschärfen; "leicht im Schwung"; "anschmiegend"; "unter meinem Bett"). Nicht Abkopferer, nein, Axtionskünstler muß man Sie nennen. Ich selber neige der Morgensternerer-Kunst zu. Wenn ich in der Früh ‚Wie schön leuchtet der Morgenstern‘ singe, weiß meine liebe, gute, brave Frau immer sofort, daß nicht nur vorm Haus rote Kehrwoche angesagt ist. Halten Sie Ihren Instrumentenkasten in Ordnung! - MfG, GR

Gravatar: qed

Sie haben völlig Recht: Auch Mahler hat sich des Zarathustra-Themas in formvollendeter Weise angenommen und überwältigend dem Fin de Siècle. Und "Kettensäge" ist die ultimative Antwort auf Adorno und Horckheimer denke ich, wenn ich zärtlich die Zähne meiner 2,5 PS- Husqvarna schärfe.
Aber Spaß beiseite- grünrote Daminen des erwähnten Kalibers werden sich nicht hierher verirren. Zuviele Sümpfe, in denen sie vollverhüllt und ganz inkognito biokorrekt entsorgt werden könnten- mir schwant, sie ahnen das.
Und was Äxte anbelangt, empfehle ich wärmstens das Sortiment der Firma Fiskars
http://www.fiskars.fi/uudet-kirveet
die eine wirklich geniale Weiterentwicklung sind und denen ich eine große Zukunft als Streitaxt voraussage: Überraschend leicht im Schwung, sich als verlängerter Arm anschmiegend, revolutionäres Spaltmoment, unverwüstlich- wie geschaffen für hartleibigste Antifa-Schädel*_Innen- ich gerate ins Schwärmen, was der Redaktor hier nicht so gerne sieht. Aber seien Sie versichert: Sie liegt immer unter meinem Bett.

Gravatar: Gernot Radtke

@ qedt - Fin-de-Siecle-Klänge und Abgesänge: nirgends ergreifender und aufwühlender als in den langsamen Sätzen der Mahler-Symphonien 3, 5 und 9. Thanatos vom Allerfeinsten! - Nach dem 'Mann mit der Axt' Sie nun 'der Mann mit der Motorsäge'. Aha. Hm. Ach wirklich? Ja, warum nicht? Bei Ihren Traumata aus der Frankfurter Schulzeit mir nur zu verständlich. Wie wär's mit ner Bahnfahrt durch Karelien als Reisebegleiter von Simone Peter und Aische Özoguz? Motorsäge im Cellokasten. Und dann volle Karelia-Suite ... - Schönen Urlaub, und daß Sie mir ja nicht auf schlechte Gedanken kommen! Ihr GR

Gravatar: qed

@ Gernot Radke

Zuviel der Ehre, mit der Sie mich überhäufen, verehrter Radke!
Obwohl ich eingestandenermaßen auch zu einer gewissen Spiritualität neige und die Ehrfurcht der Schia vor dem Mahdi nachvollziehen kann. Wie ich überhaupt ein langes Interesse für das Volk des Zarathustra eingestehen muß, das ganz profan ein gewisser Karl May mit seiner hübschen, frei erfundenen Geschichte über jenen Mahdi geweckt hat- das kommt heute in den Zeiten des schauderhaften "facebook" nicht mehr vor, so wenig wie Ergriffenheit beim Hören des "Sonnenaufgang" in der sinfonischen Dichtung "Also sprach Zarathustra" - was für ein Menetekel auf das Fin de Siècle des weißen Mannes, das wir nun durchleiden!
Hier in der karelischen Taiga hingegen findet sich noch eine Bastion in der Tradition der Kalevala bei jenem knorrigen Volk fenno-ugrischer Herkunft, wo man mich schlicht "Der Mann mit der Motorsäge" nennt. Welcher Trost.

Gravatar: Gernot Radtke

@ qed - Na, so was! Qed! Sie alter Heidemörder wieder unterwegs? Ein Liebhaber und Connaisseur der vollkörperverschleierten Moorleichen. Was treiben Sie da bloß im deutschen Norden? Sprengfallen auslegen zur Sicherung eines der letzten unbefingerten Deutschgebiete? Ich wähnte Sie gärtnern und jagen im Görlitzer-Park und Methbeck und dessen bocksstößige Gespielen beobachtend und zur Strecke bringend. Statt dessen nun Flucht ins Gesamtkunstwerk und, Mohammed gleich, Aufstieg zum Parnassos hinein in die Verborgenheit des Zwölften Imam … Alles Gute, wo immer Sie wesen und Ihr Telos vollziehen!

Gravatar: qed

Dem schließe ich mich vorbehaltlos an, lieber Radke!
Normalerweise nicht allzuweit entfernt wohnend, ist für mich ein Besuch bei den Bossards immer wieder Labsal, ja Zuversicht.
Ich grüße Sie herzlich aus 62°13'02,6'' Nord und
29°48'51,1'' Ost

Gravatar: Gernot Radtke

Feiner Beitrag, verehrte Frau Lengsfeld! – Und zwar zu einem eigenwilligen und offenbar gelungenen Versuch der Bossards, anschaulich zu zeigen, was erst eine ganzheitliche Bestimmung des Menschen zu leisten vermag, worin wir nicht ständig so viel und zu viel Zeit dafür aufbringen müssen, uns gegen Dummheiten, Geschmacklosigkeiten und überhaupt Niedriges zu wehren. Ja, wir wissen viel um Schönes und Wunderbares. Gut, daß wir es auch sehen, betreten und anfassen können! Auch darin macht nur stetiges Üben den Meister. Danke für den Heidetip!

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