Doppeltagebuch 1989/2009- 15. November

Die Grenze ist bereits löchrig wie ein Schweizer Käse, aber am Brandenburger Tor ist immer noch alles dicht. Als das Gerücht aufkam, das Tor würde geöffnet,

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standen hunderte Berliner die ganze Nacht in Erwartung dieses Ereignisses davor.
Die Opposition der DDR bleibt konzeptlos, was die weitere Entwicklung des Landes angeht. Die Gruppen handeln nach wie vor gemeinsam, wenn es um die Entmachtung der SED geht, darüber hinaus können sie sich nicht auf ein gemeinsames vorgehen einigen, weil es an Ideen und Zielvorstellungen mangelt. Das macht sich besonders negativ beim „Neuen Forum“ bemerkbar, das den größten Mitgliederzulauf hatte und auf das die meisten Erwartungen gerichtet sind. In der Öffentlichkeit bleibt die Ziellosigkeit und Unsicherheit der Opposition nicht unbemerkt. Besonders enttäuschend finden viele Demonstranten den Wunsch von Oppositionellen , die DDR zu retten.
Die Staatliche Zentralverwaltung für Statistik gibt bekannt, dass es in Zukunft keine „statistische Schönfärberei“ mehr betreiben wolle.

Sonntag am Brandenburger Tor. Der Pariser Platz ist von Touristen bevölkert. Die Mauer ist nicht mal mehr ein Alptraum. Die NVA ist nur noch durch zwei Uniformierte vertreten, die sich gegen Geld fotografieren lassen. Nebenan steht ein sowjetischer Soldat mit Fahne. Mehr Zulauf haben Break-Dancer und Rikscha-Fahrer. Immer wieder suchen Leute den Pflasterstreifen im Boden, der den Verlauf der Mauer markiert. Sie sind erstaunt, wie weit westlich vom Brandenburger Tor die Grenze verlief. Zu DDR-Zeiten stand auf der Westseite eine große hölzerne Tribüne als Aussichtsplattform ins Feindesland. Hier wurden Regierungsdelegationen hingeführt. Die konnten nicht viel mehr sehen, als Tiergarten und Siegessäule. Die friedliche Seite des Imperialismus. Nicht wirklich zum Gruseln.Für die Bürger war die Welt an der Wilhelmstraße zu Ende, die damals nach einem Arbeiterführer benannt war. Hinter der Absperrung gähnte ein riesiger leerer Platz, auf dem in der Ferne das einsam stehende, unnahbare Tor zu bewundern war.
Seit Eröffnung der Amerikanischen Botschaft ist der Pariser Platz wieder ein geschlossenes Ensemble. Auf dem ehemaligen Todesstreifen kann man auf der Terrasse eines der vielen Cafes, die sich fast bis zum Reichstag hinziehen, einen Cafe Latte trinken und in die Novembersonne schauen. Vor wenigen Tagen standen hier noch die Dominosteine, die symbolisch am 20. Jahrestag des Mauerfalls umgestoßen wurden. Wenn man am Reichstag vorbei am Spreeufer Richtung Kanzleramt geht, vorbei an den Jugendlichen, die auf der Uferpromenade die mit Blick auf den Hauptbahnhof die neuesten Tanzschritte ausprobieren. Hier, wo wüstes Land war, ist neues Leben eingekehrt. Ausflugsschiffe fahren vorüber. Man kann im Zollpackhof einkehren und mit Blick auf das Kanzleramt Weißwein trinken. Hier spüre ich viel deutlicher als beim Medienspektakel am vergangenen Montag das Wunder der Einheit.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich am 15. November 2009 auf der "Achse des Guten"

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