Doppeltagebuch 1989/2009- 14. Dezember

Mit einem Trick versucht die Regierung Modrow die Staatssicherheit, deren Auflösung vom Runden Tisch bereits beschlossen worden ist, zu retten.

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 Sie beschließt, zwei neue Geheimdienste einzurichten. Einen „Verfassungsschutz“ mit 10000 Mitarbeitern, als dessen Leiter Generalmajor Heinz Engelhardt bestimmt wird und einen „Nachrichtendienst“ mit 4000 Mitarbeitern. Letzterer soll von Werner Großmann, einem leitenden Offizier der Hauptverwaltung Aufklärung, der Spionagetruppe der Staatssicherheit geleitet werden. Für alle ausscheidenden Geheimdienstler werden „Übergangsgelder“ festgelegt, die zum Teil im fünfstelligen Bereich liegen. Mit den Namen der Dienste wird eine Demokratisierung vorgetäuscht. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Unterlaufen der Beschlüsse des Runden Tisches.
Die Gruppe „Demokratie jetzt“ legt „Deutschlandpolitische Thesen“ vor. Es soll ein Dreistufenplan zur deutschen Einheit sein, der aber so künstlich und anmaßend ist, dass er schon am Tag seiner Veröffentlichung kaum diskussionswürdig erscheint. Der Demokratisierungsprozess in der DDR solle mit Reformen in der BRD einhergehen und zur Bildung einer „Deutschen Nationalversammlung“ führen. Dann solle ein „Nationalvertrag“ zwischen beiden deutschen Staaten abgeschlossen werden, der einen „Staatenbund“ mit Schritten zu einer „Wirtschafts-, steuer-, und finanzpolitischen Einheit ermöglichen solle. Schließlich solle im Rahmen einer Entmilitarisierung ein „Bund Deutscher Länder“ gegründet werden, der sich einer „solidarischen Wirtschaftsordnung“ verpflichtet fühle. Ähnliche utopische Vorstellungen entwickelten auch andere Oppositionsgruppen. Sie demonstrieren damit, wie weit sie sich von den Forderungen der Demonstranten auf der Straße entfernt haben.
Die Außenminister der Nato-Staaten sprechen sich für die deutsche Einheit in freier Selbstbestimmung aus. Das „Neue Deutschland“ will noch nichts davon wissen. Es träumt auf seiner Titelseite: „Die Beziehungen DDR- Frankreich werden eine große Zukunft haben.“

Während Europa den 20. Jahrestag des Falls der Mauer feiert, haben sich für einen Teil der europäischen Bürger wieder neue Mauern gebildet. Diesmal rein bürokratischer Natur. Wer als ukrainischer Geisteswissenschaftler zu Vorträgen in die Schengen-Staaten eingeladen wird, hat unendliche Hürden zu überwinden. Zum Beispiel Myroslaw Marynovysch , Wissenschaftler an der Katholischen Universität Lemberg, Mitbegründer der Helsinki-Gruppe in der Ukraine, langjähriger Gulag- Häftling, heute gefragter Referent an zahlreichen Universitäten der Schengen-Staaten. Um den Aufwand für seine zahlreichen Reisen zu minimieren., beantragte Marynovych ein Mehrfachvisum für die Schengen-Staaten für ein halbes Jahr. Er bekam schließlich ein Visum für einen Monat und 13! Tage. Damit konnte er nicht annähernd seinen Einladungen Folge leisten. Kollegen aus der EU brauchen keinen Gedanken an Visa zu verschwenden, wenn sie innerhalb der Schengen-Staaten reisen. Auch wenn man als Referent in die Ukraine fährt, ist das kein Problem. Von daher ist es mehr als peinlich, dass ukrainische Wissenschaftler sich wieder in die Rolle von Bittstellern gedrängt sehen. Ein Kollege von Marynovych bekam von der Deutschen Botschaft ein Mehrfachvisum für Deutschland- für drei Tage! Das sind bürokratische Schildbürgerstreiche, die einem das Lachen im Halse stecken bleiben lassen. Marynovych hat sich jetzt in einem Offenen Brief an die Europäer gewandt . er schreibt:
„Während meiner Inhaftierung trat ich oft in Hungerstreik, um Protest zu äußern. Die heutige Situation bringt mich fast zur gleichen Reaktion: als Zeichen meines Protestes gegen Visabeschränkungen, die dem Geist des einigen Europas widersprechen, verzichte ich für ein Jahr darauf, in die Länder der Schengener Zone zu fahren (dabei bitte ich im Voraus um Entschuldigung bei den Moraltheologen der Welt, dass ich bei der Konferenz in Trento in Italien nicht vor ihnen auftreten können werde, wie es für den Juli 2010 geplant war). Mir ist bewusst, dass mein Protest beinahe sarkastisch mit dem Zitat von Solschenizyn «das Kalb stieß mit den Hörnern die Eiche» («bodalsia telenok s dubom») beschrieben werden kann, deshalb wende ich mich an Sie, Kollegen im Kampf für die Würde des Menschen, und bitte um Solidarität. Offensichtlich geht es nicht um Solidarität im «Visum-Hungerstreik», sondern um die Solidarität darin, Druck auf die europäische Bürokratie auszuüben; diese sieht hinter zahlreichen Paragraphen anscheinend nicht mehr den lebendigen Menschen.
Das Sicherheitssystem, repräsentiert durch die OSZE und ihr Helsinki-Abkommen, öffnete europäische Grenzen und förderte zwischenmenschliche Kontakte. Ich war auf ein solches Europa stolz und bin ihm dankbar, dass es mich zum Kampf für die Menschenrechte gerufen hat. Das heutige Beamteneuropa scheint ein Sicherheitssystem zu schaffen, in dem ein neuer «Eiserner Vorhang» entstanden und dem fundamentale europäische Werte unterordnet sind. Als Resultat ähnelt das Schengenereuropa dem antiken Rom, das nachdem es seine Seele verloren hatte, vergeblich versuchte, sich vor aufdringlichen Barbaren zu schützen. Um zu sehen, was ein solches Sicherheitssystem zur Folge hatte, genügt es, auf die Via dei Fori Imperiali herauszugehen.“
Quelle: www.ukraine-nachrichten.de

Dieser Beitrag erschien ursprünglich am 14. Dezember 2009 auf der "Achse des Guten"

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