Doppeltagebuch 1989/2009 - 13. Juni

Am Vorabend der Eröffnung des pädagogischen Kongresses zeichnet Partei-, und Staatschef Erich Honecker „Verdiente Lehrer des Volkes“ aus.

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 Unter ihnen der spätere thüringische Ministerpräsident Dieter Althaus, der sich aber krank gemeldet hat und im heimatlichen Eichsfeld geblieben ist, wohin ihm die Ehrung später zugestellt wurde. Nachdem ihr Gatte die ausgewählten Pädagogen geehrt hat, hält der Volksbildungsminister, wie sich Frau Margot Honecker damals nennt, eine flammende Rede, in der sie die Jugend der DDR auffordert, notfalls auch mit der Waffe in der Hand zum Kämpfen bereit zu sein. Die tapferen chinesischen Soldaten, die in Peking mit Dum-Dum- Geschossen in die Menge feuern, die , wie der „Spiegel“ poetisch beschreibt, „sich wie Blüten öffnen“, bevor sie ihr todbringendes Werk verrichten, machen es immer noch vor. Es soll inzwischen um die 10 000 Tote in China geben, Genaues weiß man natürlich nicht. Die Herrschenden in der DDR und auf Kuba applaudieren. Der Dresdener Bezirksparteichef der SED Hans Modrow weilt zu einem „Freundschaftsbesuch“ in China. Die westdeutsche Linke schweigt weiterhin. Die 68er, die inzwischen die Meinungsmache fest in der Hand halten, haben schließlich mehrheitlich die „Kulturrevolution“ von Mao enthusiastisch begrüßt, obwohl sie mehrere Millionen Tote kostete.
In Ungarn beginnen die Verhandlungen zwischen Kommunistischer Partei und Opposition am „Eckigen Tisch“, der dann doch der Runde genannt wird, mit einer klaren Verurteilung des Massakers in Peking durch die Opposition. Die Vertreter der Kommunisten stimmen der Erklärung zu.

Erst jetzt wurde bekannt, dass die Linksradikalen bei ihrem Angriff auf die Polizei am 1. Mai in Kreuzberg auch eine chemische Granate verwandt haben. Schlagzeilen macht diese Entdeckung keine. Das wäre nur der Fall gewesen, wenn der Chemiecocktail von Rechtsradikalen geschleudert worden wäre. Auch die wachsende Zahl der Angriffe auf Polizeibeamte, Feuerwehrleute, sogar Sanitätspersonal und die gestiegene Brutalität werden nur am Rande thematisiert. Gestern Abend bin ich bei einem Spaziergang am Engelsbecken beinahe in eine Versammlung von Möchtegern- Hausbesetzern gerannt, die unter den Rosenbögen eine letzte Besprechung vor der Besetzung des leerstehenden Verdi-Gebäudes abhielten. Ich hielt sie auf den ersten Blick für eine Art Folklore-Big-Band, denn etliche von ihnen hatten große, in Sackleinen gehüllte Gegenstände bei sich. Sie gaben mir zu verstehen, dass ich schnellstens zu verschwinden hätte. Ich wunderte mich über die Aggressivität der vermeintlichen Musiker. Später, als ich von der Besetzung hörte, war mir alles klar. Diesmal wurde ohne Umschweife geräumt. Dabei kam es wieder zu Gewalt, die bei der Berichterstattung aber keine Rolle spielte. Heute kann man wieder den üblichen Quark lesen, die Ursache der Brutalität der radikalen seien, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und mangelnde Erziehung. Über die eigentliche Ursache wird nicht geredet: Hass auf den demokratischen Rechtsstaat und Akzeptanz von Gewalt als Mittel der Durchsetzung von Interessen. Diese klammheimliche Freude bei manchen Politikern über die Taten der Jungen, die offenbar an die eigene Jugend erinnern. Es fehlt im Senat und im Rathaus Kreuzberg am politischen Willen, den Linksradikalen Grenzen zu setzen. Deshalb wird das besetzte Haus in der Brunnenstraße nicht geräumt, deshalb dürfen die Besetzer des Bethanien-Hauses ein denkmalsgeschütztes Gebäude ruinieren, deshalb wird den Wagenburglern in Friedrichshain der von ihnen okkupierte Platz gelassen, obwohl er dringend für einen Kindersportplatz gebraucht wird. Das wird sich erst ändern, wenn die 68er Akzeptanz von Gewalt ersetzt wird durch eine Kultur der Gewaltlosigkeit, die nur erreicht wird, wenn die schweigende Mehrheit sich aufrafft und den Gewalttätern die Akzeptanz und damit die Legitimation entzieht.

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