Die Rückkehr der Geopolitik

Europa muss sich wieder den großen internationalen strategischen Fragen stellen, ob es will oder nicht. Die Zeiten, da Streitigkeiten um EU-Budgets, Glühbirnen, Agrarförderung, Pensionsansprüche, Auslandstudenten oder Atomkraftwerke die wichtigsten Themen auf der EU-Agenda waren, sind vorbei.

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Europa muss sich heute in einem schwierigen Kräftespiel zwischen den USA, Russland, der Türkei, China und vielen kleineren Akteuren in der Welt positionieren. Es müsste das zumindest, wenn es nicht endgültig trotz seiner theoretischen Größe marginalisiert werden will.

Es müsste wieder imstande werden, eigene – und gemeinsame! – Interessen zu definieren. Es müsste lernen, Prioritäten zu setzen. Am Anfang waren ja die wichtigsten Notwendigkeiten eindeutig klar:

  1. Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland, deren Antagonismus in der Geschichte jahrhundertlang zu den schlimmsten Konflikten geführt hatte.
  2. Bildung eines attraktiven, entschlossenen und erfolgreichen Gegengewichts gegen die militärische, ideologische und propagandistische Herausforderung aus dem Osten.

Diese beiden Aufgaben wurden brillant gemeistert. Danach aber hat Europa offensichtlich an das Ende der Geopolitik geglaubt. Es hat verlernt, in großen Zusammenhängen zu denken. Es gibt aber heute viele neue geopolitische Herausforderungen, die in sehr komplizierten Zusammenhängen vernetzt sind. Und die eindeutig die politischen und intellektuellen Fähigkeiten der heute dominierenden Akteure übersteigen. Europa hat aber keinen Adenauer mehr, keinen Kohl, Schmidt, De Gaulle, Mitterrand, Hallstein, Delors, Churchill und keine Thatcher. Sie waren wahrscheinlich auch deswegen so herausragende Staatsmänner, weil sie alle noch persönlich durch die schwärzesten Zeiten der europäischen Geschichte geprägt worden waren.

Heute aber sind ihre schwächlichen Erben mit der nüchternen wie schmerzhaften Tatsache konfrontiert: Man kann nicht auf alle Länder gleichzeitig böse sein, sich alle wichtigen Akteure zum Feind machen, sich als Lehrmeister der ganzen Welt geben. Das kann man vor allem dann nicht, wenn man so sehr in einer multiplen Krise steckt wie die EU. Wenn man militärisch so schwach geworden ist, wie es die EU-Länder heute sind, wenn man sowohl beim Wirtschaftswachstum wie der Währungspolitik schlicht und einfach versagt hat, wenn man absurde Details überreguliert hat, statt sich auf Prioritäten zu konzentrieren.

Dann kann man nicht gleichzeitig:

  1. auf Großbritannien böse sein, weil es beschlossen hat, die EU zu verlassen;
  2. Ungarn oder Polen auf die Strafbank setzen, weil dort Rechtsregierungen an der Macht sind;
  3. aus regierungsoffiziellen Positionen heraus gegen einen der beiden möglichen nächsten US-Präsidenten hetzen, obwohl die USA der weitaus wichtigste Verbündete Europas sind;
  4. das Wiedererwachen nationaler Identitätsströmungen in Ländern in und außerhalb der EU bekämpfen;
  5. die ganze verbliebene Kraft auf das angeblich menschengemachte „Global Warming“ konzentrieren sowie einige weitere global-ökologische Ziele;
  6. die südeuropäischen Schuldnerstaaten mit den Konsequenzen ihres Fehlverhaltens konfrontieren, das den ganzen Euroraum infiziert hat;
  7. China wegen Dumping mit Sanktionen drohen und seine expansive Politik in großen Meeresgebieten verurteilen;
  8. Russland wegen der völkerrechtswidrigen Invasion in der Ukraine mit Sanktionen belegen;
  9. die Türkei als Mittäter des politischen Islamismus, als Verbündeter der fundamentalistischen Muslimbrüder und als Drehscheibe des Terrors outen und kritisieren;
  10. den „Islamischen Staat“ mit allen Mitteln bekämpfen;
  11. „Al Kaida“ und die verbündeten Organisationen als gleich schlimm wie den IS verfolgen;
  12. die „Flüchtlings“-Exportländer unter Druck setzen, diese Menschen zurückzunehmen;
  13. die EU-Außengrenzen gegen die Völkerwanderung zu schützen;
  14. menschenrechtsverletzende Regime in der Welt boykottieren;
  15. und alle Länder danach beurteilen, wie man sie als demokratisch einstuft oder nicht.

Gewiss, eigentlich sollte man vieles davon gleichzeitig tun (außer die fünf erstgenannten Punkte, die mehr dümmlich als klug sind). Natürlich hätte man gerne, dass jedes einzelne europäische Land offen und mutig gegen alles Unrecht und Böse in der Welt vorgeht oder zumindest klar Stellung nimmt.

Nur: Das geht leider nicht. Damit macht man sich angesichts der heutigen Schwäche Europas nur noch lächerlich.

Selbst die viel stärkeren Vereinigten Staaten haben sich lange an eine eiserne, wenn auch eigenwillige Regel gehalten: Es gibt jeweils nur einen Hauptfeind – auch wenn dieser wechseln kann. Alle anderen Kräfte sind Verbündete gegen diesen Hauptfeind, bei denen man daher auch über kleinere oder größere Defizite hinwegsieht. So haben die USA einst keine Sekunde lang Kritik an Diktaturen geübt, wenn diese ihre Verbündeten in der großen Ost-West-Auseinandersetzung waren. Henry Kissinger hat dieses Denken dann ziemlich brillant zu globalen Gleichgewichts-Konstruktionen weiterentwickelt.

In den letzten 25 Jahren sind sie allerdings in das andere Extrem verfallen, in das Nation building, also in den Versuch, von außen fremde Länder zu demokratisieren. Erst in allerjüngster Zeit versuchen sie davon wieder wegzukommen. Und die Trump-Kampagne ist eine massive Absage an das Nation building.

Noch deutlicher ist der Vergleich mit dem Zweiten Weltkrieg: Weil Hitler und der deutsche Nationalsozialismus damals die größte Bedrohung für die ganze freie Welt waren, hat man im Krieg mit der anderen großen Bedrohung kooperiert, mit Stalins Kommunismus. Obwohl Stalin 1939 mit Hitler ein verbrecherisches Abkommen zur Aufteilung Osteuropas geschlossen hatte. Obwohl bei den Pariser Friedensverträgen nach dem ersten Weltkrieg noch von allen Westmächten einhellig der Bolschewismus als die alles überragende Gefahr der Zukunft angesehen worden war (nur Frankreich fürchtete damals Deutschland mehr).

Aber die Kooperation mit Stalin ist im Krieg notwendig geworden, um Hitler zu besiegen. Was sich gut begründen lässt: Der Kommunismus war zwar genauso totalitär, mörderisch und menschenvernichtend wie der Nationalsozialismus, aber er hat damals nicht so wie Hitler andere Länder offensiv militärisch überfallen (sondern – erfolglos –  nur auf die Revolution des „Proletariats“ in anderen Ländern gesetzt). Unbestreitbar ist jedoch ebenso, dass der Kommunismus in späteren Jahren dann sehr wohl mit militärischer Brutalität andere Länder erobert hat, etwa Südvietnam, Laos, Kambodscha und Afghanistan. Unbestreitbar ist auch, dass die Amerikaner zu und nach Kriegsende völlig unnötigerweise den Sowjets große Teile Europas ausgeliefert haben.

Aber zurück zum heutigen Dilemma der EU: Sie sollte sich angesichts ihrer eigenen Schwäche dringend entscheiden, welche der Bedrohungen und Rechtsverletzungen am schlimmsten sind, und mit welchen man sich notgedrungen arrangieren muss. Was zwar nicht heißt, dass man nur eine einzige Herausforderung annehmen und bekämpfen darf, aber eben ganz sicher, dass man nicht allen gleichzeitig entgegentreten kann.

Jedoch: Es gibt in diesem Europa weit und breit keinen Konsens zu diesen Fragen, zu den notwendigen Prioritäten. Jedes Land hat da eine andere Meinung (oder wie viele Mitgliedsstaaten gar keine, weil man genug landeseigene Probleme hat wie etwa Spanien und Italien; weil man einfach zu klein ist, um genügend intellektuelle Kapazität für geopolitische Analysen zu haben wie etwa Österreich).

  • So will Deutschland ausgerechnet jene beiden Bedrohungen ignorieren, die für viele andere Europäer die schlimmsten und gefährlichsten sind, nämlich jene durch die Türkei mit ihrem expansiven Islamismus und jene durch die Schuldnerstaaten.
  • So erkennt wiederum Frankreich, das zweitmächtigste EU-Land, zwar in Islamismus und Migration die größte Bedrohung, ist aber voller Ressentiments gegen die Briten, obwohl für die EU eine möglichst enge Kooperation mit London enorm wichtig wäre.
  • So sind die Linksregierungen in Griechenland und Italien aus ideologischen Gründen nicht gewillt, die Völkerwanderung wirksam zu stoppen.

Damit droht die allerschlimmste Variante zur wahrscheinlichsten zu werden: Europa schafft überhaupt keine gemeinsame Strategie, keine Rückkehr zur Geopolitik.

Zuerst erschiene auf www.andreas-unterberger.at/2016/09/die-rckkehr-der-geopolitik/

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Werner N.

Die an sich richtigen Vorschläge des Artikels dürften an den Realitäten scheitern.

1. Die „Geopolitik“ war im Westen nie weg. Sie wurde lediglich von den USA und der Nato betrieben und war in Wirklichkeit „Geo-Imperialismus“ für >Die einzige Weltmacht< (Z. Brzezinsiki). Die 26 „Vasallen“–Staaten des Nato–„Friedensbündnisses“ folgten anstandslos, insbesondere die BRD mit der Kanzlerin.
2. Falls die zerbröselnde EU daran etwas ändern will, müsste sie den Lissabon–Vertrag ändern, denn der sieht auch außerhalb ihres Territoriums die Beteiligung an Kriegen der USA vor. Einstimmigkeit dürfte hier illusorisch sein. Diese Woche kommen die Chefs der 27 EU–Staaten ohne GBR zusammen, um mehr Geld für die Nato abzudrücken und ..“die Schlagkraft ihrer Armeen zu erhöhen“.. (BILD 13.09.16).
3. Über die „Special Commands“ wissen unsere Medien und Experten nahezu nichts. Diese gibt es mittlerweile in allen amerikanischen Waffengattungen, um „bunte Revolutionen“ subversiv anzuzetteln. Sie haben Abteilungen für Spionage, Propaganda und Desinformation und arbeiten eng mit der CIA zusammen, um >The Making of Nations< vorzubereiten. Unter dem Friedensnobelpreisträger Obama wurde der Etat dafür stark erhöht.
4. Das jüngste US–Strategiepapier TRADOC 525 fordert für die Jahre 2020–2040 die „Full Spectrum Dominance“ zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Die EU, besonders die BRD, soll hierbei eine wesentliche Rolle spielen.

Das sind keine Verschwörungstheorien, sondern in den USA veröffentlichte Fakten. Ob das andere Präsidenten / innen rückgängig machen (können), ist fraglich, schließlich gehört die Waffen- und Militärindustrie zu den größten Wirtschaftszweigen der USA.

Gravatar: Stephan Achner

Sie haben so gut wie alle Kernargumente aufgeführt, warum "Europa" "überhaupt keine gemeinsame Strategie" schaffen kann.Leider verwechseln auch sie Europa mit EU.

Warum eigentlich soll "Europa" eine "gemeinsame Geo-Strategie" schaffen (abgesehen von einzelnen Themen)? Ich sehe keinen einzigen wirklich relevanten Grund. Als es in "Europa" noch die EWG und dann die EG gab, existierte auch keine "gemeinsame Geo-Strategie" und Europa war ein friedlicher, politisch stabiler und wirtschaftlich prosperierender Platz.

Das Unglück begann mit der Gründung der EU und ihrer völligen Überhöhung, die man nur noch als Ideologie bezeichnen kann. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie man aus der EU und dem Euroraum den politisch stabilsten, wirtschaftlich stärksten, wettbewerbsfähigsten und sozialsten Raum dieser Erde machen wollte und vollmundig in die Welt hinaus posaunte. Nichts, aber auch gar nichts davon ist Realität geworden - im Gegenteil. Das Resultat ist heute, dass die halbe Welt über die EU lacht, wenn gleich meistens hinter vorgehaltener Hand.

Das Kernproblem ist dieses "imperialistische" Block-Denken in geostrategischen Dimensionen in den Köpfen vor allem von "Politikern" und EU-Funktionären. Wenn man das endlich einmal lassen würde, könnte Europa wieder eine gute Zukunft haben. Europa ist zu heterogen für eine Block-Geopolitik. Es reicht doch auch, wenn die Briten das machen, was für Großbritannien richtig und wichtig ist - und Frankreich macht das genauso - und Deutschland usw. Das hat von 1945 bis zur unsäglichen Gründung der EU prima funktioniert.

Und wer unbedingt Geostrategie machen will, der kann sich ja Zinnsoldaten kaufen und im Wohnzimmer oder in seinem Brüsseler Büro damit spielen. Dann richtet man wenigstens keinen weiteren Schaden an, der schon groß genug ist.

Gravatar: Lars Rosinsky

Eine zum Teil sehr gute Analyse der derzeitigen politischen Paralyse der EU. In einem Punkt aber möchte ich korrigieren: 2014 find in der Krim keine völkerrechtswidrige Invasion statt, sondern die bereits autonome Republik Krim führte eine durch Volksabstimmung legitimierte Sezession und einen Beitritt zur Russischen Föderation durch, den man auch als Wiedervereinigung bezeichnen kann, nachdem zuvor der frei gewählte ukrainische Präsident durch einen verfassungswidrigen Putsch unter Beteiligung von Neofaschisten in Kiew gestürzt wurde. Die Krimrepublik und Russland haben sich also strikt völkerrechtskonform verhalten.

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