Die Langweiligkeit der Klassiker

Wer sich langweilt – näherhin: meint, gelangweilt zu werden –, dem verstreicht die Zeit zu langsam. Er wird daran erinnert, dass er eigentlich mit sich selbst nichts anzufangen weiß und Ablenkung benötigt. Er sucht Kurzweil. Da ist er bei Kubrick, wie bei allen Klassikern, falsch; deswegen sind sie ja Klassiker geworden.

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Spiegel online widmet sich löblicherweise und in angemessen respektvoller Art einem neuen Buch namens „The Making of Stanley Kubrick’s 2001. A Space Odyssey“. Die unvermeidlichen Leserkommentare teilen sich in solche, die den Film ebenfalls für ein Ereignis von kulturgeschichtlicher Relevanz halten und jene, die sich von ihm kolossal gelangweilt fühlten. Dergleichen Urteile finden sich in den online-Kommentaren über die größten Werke der Kunst, also etwa über Goethe, Proust, Tolstoi, über „Tristram Shandy“ oder Thomas Manns Josephsroman. Als besonders langweilig gelten auch Wagner-Opern und Bruckner-Symphonien, wobei sich manch fahriger „Jetztsasse“ (Thomas Kapielski) inzwischen sogar beim Figaro oder Rosenkavalier zu Tode ennuiert. Man könnte die Klagen übers Gelangweiltwerden als autoselektive Bekenntnisse ästhetisch Unbegabter, möglichweise auch der Vorboten des nächsten menschlichen Evolutionsschritts, auf sich beruhen lassen; ich will sie freilich geradezu umdrehen und formulieren: Fast alle bedeutenden Kunstwerke sind langweilig. Nur langweilige Kunst ist, zuweilen, große Kunst. Alles, was bloß unterhält und zerstreut, verschwindet so rückstandslos wie fast food.

Die Langeweile, welche hier in Rede steht, ist das Gelangweiltwerden als Gegenteil des Zerstreut-, Gekitzelt-, Angefixt- und Abgelenktseins (es gibt noch die andere, tiefe Langeweile, die Matrix des Philosophierens, um die geht es hier nicht). Diese Langeweile ist ein Zeitproblem. Wer sich langweilt – näherhin: meint, gelangweilt zu werden –, dem verstreicht die Zeit zu langsam. Er wird daran erinnert, dass er eigentlich mit sich selbst nichts anzufangen weiß und Ablenkung benötigt. Er sucht Kurzweil. Da ist er bei Kubrick, wie bei allen Klassikern, falsch; deswegen sind sie ja Klassiker geworden, und nicht längst vergessene Animateure ihrer jeweiligen Generation. Langeweile ist kein ästhetisches Kriterium, sondern ein subjektives Empfinden, das sich objektiv gibt, indem es Dingen zuschreibt, zu langweilen. Es gibt gewiss hinreichend viele sozusagen objektiv langweilige Dinge, nur um große Kunstwerke langweilig zu finden, muss man sich auf sein subjektives Empfinden berufen. Es handelt sich dabei um die simpelste Form der Verlorenheit an den Zeitvertreib, wobei diejenigen sich am schnellsten zu langweilen scheinen oder vorgeben, die auch sonst wenig Zeit haben oder zu haben behaupten. Tatsächlich fehlt den meisten Menschen (offenbar zunehmend) die Fähigkeit, sich zu sammeln, einem längeren Gedanken zu folgen, sich auf eine Sache oder Idee zu konzentrieren, sich in eine Sinfonie, eine Sonate oder ein Gemälde zu versenken, in einer Stimmung verharren zu können. Sie sind stattdessen ständig auf der Suche nach dem nächsten sogenannten Kick; kaum ein Accessoire könnte unser Epöchlein besser symbolisieren als die Fernbedienung. Wir zappen Menschen, Events, Webseiten, Orte, wie's eben nur geht. St. Martin sagt dazu („Die Grundbegriffe der Metaphysik“): „Wir haben keine Zeit, weil wir selbst nicht lassen von dem Mittun bei allem, was gerade los ist. Am Ende ist dieses Keine-Zeit-haben eine größere Verlorenheit des Selbst als jenes sich Zeit lassende Zeitverschwenden. (...) Das ‚keine Zeit haben’, das so aussieht wie der strengste Ernst, ist vielleicht die größte Verlorenheit an die Banalität des Daseins.“

Ein Mensch, der einen Kubrick-Film langweilig findet und nach schnellerem Kitzel verlangt, wird offenbar in einem schrecklichen Maße von der Angst vor Langeweile beherrscht, er existiert gewissermaßen über einem drohenden Schlund von Langerweile, in den er ständig zu stürzen fürchtet, wenn das eng geknüpfte Netz aus Ablenkungen an irgendeiner Stelle löchrig zu werden droht. Es sei denn, er ist den in Kubrick-Filmen aufgeworfenen Problemen geistig dermaßen weit voraus, dass er sich aus Unterforderung gelangweilt fühlt; diesem Menschen sollte dann umgehend eine Pagode aus Gold und Kristall errichtet werden, worin er sich als Genie anstaunen lassen darf.

Jeder möge selber prüfen, an welche Bücher er sich nach Jahren am besten erinnert, welche literarischen Gestalten am plastischsten vor ihm stehen, und ich wette, er wird staunen, wie oft es sich um solche handelt, bei denen man sich zu langweilen glaubte bzw. tatsächlich langweilte. Oft erschließt erst die Langeweile auslösende vergleichsweise Zähigkeit großer Romane (oder Filme) die Möglichkeit, ihre außergewöhnlichen Aspekte oder Momente ganz aufzunehmen, das Langweilende ist gewissermaßen der Rahmen, der das Bild umschließt, die Stimmung, in welcher das Ereignis stattfinden kann. Im Langweilenden steckt das Anarchische, Authentische, Manipulationsferne, zum Sprung Ansetzende der Kunst. Umgekehrt werden die auf Spannungserzeugung geradezu optimierten Bücher (oder Filme) schnell öde und vorhersehbar, man spürt die Absicht, und man ist verstimmt, weshalb nach spannenden Büchern (oder Filmen) oft ein schales Gefühl und bald gar nichts mehr zurückbleibt. Je spannender das Buch (der Film), desto unaufmerksamer ist der Leser (der Zuschauer), er wird jeden ästhetischen Treffer übersehen, jede literarische Schönheit hastig überlesen, denn er strebt ja der Handlung nach, ja er wird literarische Delikatesse sogar als störend, weil handlungshemmend empfinden.

Das bedeutet nun keineswegs, dass die künstlerische Erzeugung von Langerweile grundsätzlich positiv zu werten sei, im Gegenteil. Es gibt nur, um den Kreis an dieser Stelle zügig zu schließen, etwas, das mich noch mehr langweilt als Gauck-Reden, die Spielweise von Guardiola-Mannschaften, soziale Gerechtigkeit, die deutsche Küche und die Zukunftsvorstellungen von Technikern: spannende Bücher, spannende Filme.

Zuerst erschienen auf michael-klonovsky/acta-diurna

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