Der Tic - was bedeutet dies

Als ein Fernseher der 70er Jahre ließ sich vermuten, dass Teilnehmer an Talkshows eine leichte neurologische Störung immer weniger aufweisen: Das Symptom des Tic.

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In diesen Jahren waren es gelegentlich nur - meist ältere Herren - die hin- und wieder mit ihren Augenlidern blinzelten, mit den Schultern zuckten oder Stirn-und Nase krausten. Im neuen Jahr­hundert, in dem zu solchen Runden zunehmend jüngere Menschen ein­geladen wurden, schien der Tic mittlerweile wie ausgestorben.
Erstaunlicher­weise zeigt sich nun aber, dass solche Störungen, die als erstes im Grundschulalter auftreten, nun wieder in vermehrter Zahl sichtbar werden. In einer Radiosendung über Verhaltensstörungen erwähnte ich auch diese Form einer motorischen Unruhe und musste erleben, dass dadurch aus manchen Familien Hilferufe an mich als Kinder­therapeutin ausgelöst wurden. Dabei ließ sich erfahren, dass Sachkenntnis auf diesem Feld der Verhaltensstörungen in der Bevölkerung praktisch nicht vorhanden ist. Im Gespräch geben die Eltern dann regelmäßig an, dass sie sich oft bereits über Jahre mühen, die Kinder auf diese "Unart" anzusprechen und sie bei wachsender Erfolglosigkeit auch dafür beschimpfen und bestrafen. Sie können die Aussage der Kinder nicht verstehen, dass ihnen diese Zuckungen ohne jeden Einfluss ihres Willens geschehen.
Was ist ein Tic? Hat er eine Bedeutung? Lässt er sich therapieren? Warum nimmt er bei manchen Kindern wieder zu und weitet sich bis ins Erwachsenen­alter hinein aus? Einiges darüber ist in der Neurologie längst bekannt: Tics haben ihren Ort in den motorischen Arealen des Gehirns. Sie gelten in der Schulmedizin als nicht veränderbare, genetisch bedingte, unwillkürliche motorische Erscheinungen. Einige verschwinden zwar im Kindesalter wieder. Andere lassen sich sogar lebenslänglich nicht vollständig bändigen. Psychiatrisch wird wenig erfolgreich medikamentös einzugreifen versucht. Das Leiden ist für die Betroffenen - subjektiv besonders ab der Pubertät - außerordentlich gravierend. Es wird als peinlich, beschämend und wertmindernd erlebt. Es entsteht das wachsende Bedürfnis, die unwillkürlichen Bewegungen im Gesicht oder im Oberkörperbereich zu unterdrücken, was meistens zu Misserfolgen, ja, eher zu einer Steigerung führt .

Es drängt mich deshalb hier zu berichten, dass es oft möglich erscheint, in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit den Patienten die Störung zu minimieren oder sogar ganz zum Verschwinden zu bringen. Es ergibt sich nämlich bei der Anamneseerhebung regelmäßig, dass die Störung bereits im Kleinkindalter beginnt und zwar bei Kindern, bei denen eine hinreichende Ausgestaltung ihres Freiraums, ihrer Selbstbehauptung, ihres motorischen Spielraums, in einem für sie zureichenden Maß gefehlt hat. Die vitale Entfaltung physischer und psychischer Eigenständigkeit blieb aus! Es ist so, als ob der Lebenstrieb, die Natur im Kind, sich eine solche Einschränkung nicht gefallen lässt. Die Natur verhält sich ähnlich wie im Erdbebengebiet von Japan. Sie bebt dort in vielen Kleinschüben, um die Spannungen im Inneren der Erde anzuzeigen. Auch im physischen Bereich des Menschen werden mithilfe des Tics seelische Spannungen erkennbar, ja, mehr noch: In der Therapie lässt sich die Vermutung erhärten, dass der Tic eine nicht zum Zug gekommene Angriffsgebärde ist . Das ent­sprechende Kleinkind hat noch nicht genug Kraft zur Ausführung gehabt. Der Tic will also als ein Signal an die Erziehenden verstanden sein, das der Nachbesserung bedarf; denn in dem entsprechenden Zeitfenster der Entwicklungsphase ist dem Kind sein Entfaltungsspielraum nicht eigen­ständig und hinreichend genug eingeräumt worden. Die Natur des Kindes akzeptiert drastische Einengung nicht ohne Rebellion und übernimmt mit dem Tic ein Stück Eigenmacht. Das Symptom entspringt also nicht dem Eigenwillen des Kindes und lässt sich deshalb auch nicht frontal von ihm beseitigen. Erstaunlicherweise zeigt sich dann darüber hinaus im Erwachsenenalter, dass Menschen, deren Kindheit auf diese oder andere Weise irgendwie stranguliert war, auch gelegentlich zu mächtigen, oft zerstörerischen Jähzornsausbrüchen neigen - ähnlich wie ein psychisches "Großerdbeben".
Die Vermutung solcher Zusammenhänge hat sich als erfolgreicher therapeutischer Ansatz erwiesen: Begreift der leidende Patient, der krampf­haft versucht, den Tic zu unterdrücken und damit lediglich Miss­erfolge erlebt hat, dass dem Verstehen seiner Störung eine anderen Behandlung zu folgen hat, so lässt sich - weg von der Symptomtherapie - ein Ansatz entfalten, mithilfe von Psychomotorik nachzuholen, was in der entsprechenden Entfaltungsphase als Kleinkind unerfüllt geblieben ist. Sich eine motorisch befreiende Sportart zu wählen (Boxen ist besonders erfolgreich), sich im Umgang mit mächtigen Familienmitgliedern tapferer zu behaupten, seinen Platz einzunehmen, statt sich wegdrängen zu lassen, also sein Naturrecht gewissermaßen zu beanspruchen - das kann dann mit dem Patienten nachholend zur erfolgreichen Übung werden. Die Vor­aussetzung dazu ist der verständige Umgang mit einer Kleinstörung. Sie lässt sich in jungem Alter noch vertreiben, statt chronisch das Selbst­wertgefühl des Betroffenen zu beeinträchtigen.

Der Tic ist offenbar neu in Gefahr, eine subjektiv beschwerende Störung zu werden, weil heute die allzu frühe Kanalisierung der Kinder bewirken kann, dass eine Entwicklung von Bindungsfähigkeit und angemessener Durchsetzung unzureichend bleibt.


Der Mensch ist als ein Mitkreator unseres Gottes gedacht. Der Reichtum seiner Entfaltung lässt sich durch unkindgemäße Künstlichkeiten einschränken. Das bedeutet aber, ihm die natürliche Kraft zu ausgeglichener Ausreifung zu rauben.


Es lohnt sich, dem Kind die Möglichkeit einzuräumen, Selbstständigkeit und pflegliche Selbstbehauptung alters-entsprechend zu leben bzw. nach­zuholen, um eine seelisch gesunde Ausgestaltung zu gewährleisten.

Beitrag zuerst erschienen auf christa-meves.eu

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