Das laxe Wahrheitsverständnis beim SPIEGEL

Keine Woche ist es her, dass der SPIEGEL-Reporter Claas Relotius als Fälscher überfuhrt wurde. Die Hamburger Redaktion distanzierte sich nicht nur von ihrem Mitarbeiter, sondern spielte Kollegen und Mitarbeitern Transparenz und völlige Aufdeckung des Falls vor.

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Auffällig dabei: Relotius bezichtigt sich im Verlauf der Aufklärung selbst als „krank“. Gewissermaßen ein psychisch gestörter Einzeltäter, wie wir ihn immer wieder im Zusammenhang des Mainstreams finden, wenn nicht sein kann, was sein darf. In seinem Newsletter schreibt der SPIEGEL: in Relotius sieht man „nicht einen Feind, sondern einen von uns, der mental in Not geraten ist“.

Kein Zweifel darf daran aufkommen, dass der sogenannte deutsche „Qualitätsjournalismus“ seriös ist und der tief gefallen Star der Reportagen ein tragischer Einzelfall. Aber wie glaubwürdig ist eine solche Ankündigung, wenn der SPIEGEL aus der Causa Relotius eine neue „Story“ strickt? Und wie glaubwürdig sind die Bekundungen, schonungslos aufzuräumen, wenn der SPIEGEL Relotius bis zuletzt geschützt hat, weil sie an ihren Star-Journalisten glauben wollte?

Mittlerweile ist klar: Zweifel an den Geschichten von Relotius gab es spätestens 2017. Gestützt auf dessen orientalisches Märchen „Löwenkinder“ wollte Spiegel TV eine Produktion fürs Fernsehen drehen. Das Problem: Angaben von Relotius stimmten nicht mit der Realität überein. Personen, die das Team kontaktieren wollte, existierten nicht. Die IS-Kämpfer Khalid und Nadim, die die Hauptrolle in Relotius Stück spielten, existierten hingegen, waren aber gar keine Brüder.

In Hamburg sorgte das aber kaum für Reaktionen. Relotius Glaubwürdigkeit stand nicht infrage. Dafür hatte der Mann buchstäblich zu gute Arbeit in den letzten Jahren geleistet. In einer abgeschlossenen Filterblase mit reichhaltiger Ideologie stören unschöne Details nur. Fakt ist: die Vorwürfe gegen Relotius wurden ebenso wenig verfolgt wie die Plots in seinen Geschichten, die in Sackgassen mündeten.

Auch die Aufdeckung des Skandals erscheint heute in anderem Licht. Ullrich Fichtner schreibt in seiner Reportage zum Reporter, die im selbigen süffigen Stil wie Relotius beste Werke daherkommt, dass SPIEGEL-Reporter Juan Moreno „durch die Hölle“ gehen musste, weil ihm niemand glaubte, als er Relotius anzeigte. Ende November 2018 war in der Redaktion klar: einer musste gehen, entweder Moreno oder Relotius. Im Gegensatz zum mit Journalistenpreisen überhäuften Relotius sah Moreno alt aus.

Nicht Wahrheitssuche, sondern Existenzangst trieb Moreno dann in den USA, um die letzte Geschichte seines Kollegen als Lügengebilde zu dekonstruieren. Die unerbittliche SPIEGEL-Redaktion hätte beinahe den Falschen enthauptet – im festen und unbeirrbaren Glauben an einen Betrüger, weil der eben besser betrog als alle anderen. Dass die so gerühmte SPIEGEL-Dokumentation in beiden Fällen nicht nur versagte, sondern es auch nicht für nötig erachtete, bei so offensichtlichen Fehlern nachzuforschen, wie es nötig gewesen wäre, spricht eher für den laxen Umgang des SPIEGEL mit der Wahrheit, wenn die Erzählung stimmt.

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