Bonjour Zensur: EU-Menschenrechtsgerichtshof macht Forenbetreiber zu Blogwärtern

Nach Lesart des Straßburger Gerichts verstößt nicht nur das Beleidigen gegen die Menschenrechte, sondern auch derjenige, der Beleidigungen im Internet eine Platform bietet.

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Es soll Menschen geben, die das Recht auf freie Meinungsäußerung als ein Menschenrecht betrachten. Den Richtern am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg sind diese jedoch offensichtlich ein Dorn im Auge. Ihr jüngstes Urteil gegen das estnische Nachrichtenportal Delfi.ee wendet sich aber nicht gegen Beleidiger und Verleumder, sondern nutzt diese, um die Betreiber von Websites, auf denen Menschen ihre Meinung frei äußern können, an die Kette zu legen.

Wer auf seiner eigenen kommerziellen Website beleidigende Kommentare Dritter auch nur für kurze Zeit publiziert, muss künftig damit rechnen, dem Beleidigten Schadensersatz zahlen zu müssen. So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem Prozess gegen das estnisches Nachrichtenportal Delfi geurteilt – und dies, obwohl es die beleidigenden Kommentare nach Aufforderung gelöscht hatte.

Dieses Urteil wird durchschlagende Konsequenzen für Nutzer wie Betreiber von Websites haben und die einstig beschworene Freiheit des Internet endgültig vergessen machen. Schon jetzt schließen immer mehr Websites aus Angst vor Klagen ihre Kommentarfunktionen oder verbarrikadieren sich hinter politisch korrekten und nahezu jede Art von pointierter Meinungsäußerung verhindernden „Hausordnungen“.

Diese Art der vorauseilenden Selbstzensur wird nun mit dem Heiligenschein des Schutzes der Menschenrechte made in Straßburg versehen: Auch wenn das Urteil keine unmittelbare Auswirkung auf die Pflichten deutscher Nachrichtenportale hat, wie der Kölner Medienanwalt Christian Solmecke gestern auf seiner Website erklärte, so muss dennoch damit gerechnet werden, dass Forenbetreiber aus Selbstschutz noch stärker proaktiv und in Echtzeit beobachten, was Menschen kommentieren, und ggf. Kommentare gar nicht erst oder wenn nur nach eingehender Prüfung veröffentlichen.

Wer solche Eingriffe in die Meinungsfreiheit fordert oder begrüßt, unterscheidet sich von den Auspeitschern des saudi-arabischen Bloggers Raif Badawi eigentlich nur in der Wahl des Züchtigungsmittels.

Weitere Quellen:

„Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Forenbetreiber haftet für Beleidigungen der Nutzer“, Spiegel Online, 16.6.2015

Glyn Moody: „Shock European court decision: Websites are liable for users’ comments“, ars technica, 17.6.15

„Estland: Internetportal Delfi klagte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte“, Das Baltikum-Blatt, 17.7.14

 

Der Artikel ist am 19. Juni auf der Website BFT Bürgerzeitung und auf zeitgeisterjagd.de erschienen.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: ewald

wenn die dritte gewalt auch noch zusammenbricht und dem bürger die möglichkeit der meinungsäußerung nimmt,, sind wir der gebündelten staatlichen gewalt und einer meinungsdiktatur ausgesezt.der staat und seine organe dürfen mich folgenlos und schutzlos als nazi,rechtspopulist,fundamentalist,faschist und als unanständig beschimpfen

Gravatar: kassandro

Die Demokratie ist tot, es lebe die Juristokratie. Wie lange wollen wir uns die Machtgeilheit dieser Gerichte noch gefallen lassen? Vor kurzem erklärte ein Verwaltungsgericht (!!!!) eine Stunde Mehrarbeit für Gymnasiallehrer in Niedersachsen für verfassungswidrig. Bereits in der ersten Anhörung zur "Herdprämie" lässt sich das Bundesverfassungsgericht zu einer dreisten Vorverurteilung hinreißen. Der politsche Handlungsspielraum der Parlamente, in denen ohnehin überwiegend Juristen und Beamte sitzen, nimmt dadurch immer mehr ab.

Gravatar: Karin Weber

Im Prinzip wollen die auf diese Weise sich präventiv gegen Kritik resistent machen. In Deutschland ist der Straftatbestand der Beleidigung juristisch undefiniert. Jeder kann sich wegen allem beleidigt fühlen und zum Schluss befinden darüber Richter nach Tageslaune.

Organisationen, die um diese Strafgelder buhlen, gibt es zur Genüge:
http://www.swr.de/landesschau-rp/richter-bestimmen-strafgeldverteilung/-/id=122144/did=12669382/nid=122144/rvlbqt/index.html

Der Linke und Ex-Richter Nescovic (Anmerkung: Ich mag keine Linken!) kritisiert aus meiner Sicht dennoch zu Recht, die mittlerweile tatsächliche Fiskalisierung des Rechtes in Deutschland:

http://www.deutschlandfunk.de/fall-ecclestone-das-ist-ein-offenbarungseid-der-justiz.694.de.html?dram:article_id=293813

Den erbärmlichen Zustand der Justiz über verschiedene politische Systeme hinweg, ist hier hervorragend dargestellt:
http://sciencefiles.org/category/rechtssystem/

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