Aufstand gegen den Sultan

Steht die Türkei vor einem osmanischen Frühling? Die Frage ist angesichts der anhaltenden Ausschreitungen sicher berechtigt. Aber der Vergleich mit dem arabischen Frühling geht fehl.

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Die Türkei unterscheidet sich historisch und staatspolitisch grundlegend von den Nachbarn an der Levante und jenseits des Mittelmeers. Die ehemals Hohe Pforte hat vor neunzig Jahren unter Atatürk, dem Vater der modernen Türkei, die Trennung zwischen Religion und Staat vollzogen und der Austausch in Handel, Wissenschaft und selbst Politik war und ist zwischen der Türkei und Europa ungleich viel intensiver als die Beziehungen der arabischen Länder mit dem alten Kontinent.

Daraus folgt: Millionen Menschen in der Türkei haben ein viel tieferes, umfassenderes Verständnis von Demokratie und Freiheit als die Menschen im islamischen Krisenbogen zwischen Casablanca und Taschkent. Deshalb lehnen sie sich jetzt auch gegen den neuen Sultan Erdogan auf. Erdogan hat in den letzten zehn Jahren das Land schleichend re-islamisiert, aber die Demonstranten wollen nicht zurück in die Zeiten islamistischer Diktaturen. Sie haben Freiheit und Demokratie gekostet und sie ahnen, daß dies die Grundlage auch für Wirtschaft und Wohlstand ist. Die Geschichte gibt ihnen recht.

Erdogan dagegen sieht die Geschichte anders. In seiner Vorstellungswelt sind Islam und Staat von je her verbunden, der Koran ist für ihn wie für orthodoxe Muslime das wahre bürgerliche Gesetzbuch. Din wa daula – so lautet das Axiom für strenggläubige Muslime, Staat und Religion zusammen. Für sie ist die Türkei Atatürks nur ein kleines Intermezzo auf dem Weg zur Herrschaft des Islam. Deshalb wird Erdogan auch nicht nachgeben und koste es das Blut der Demonstranten.

Für diese politisch-kulturelle Auseinandersetzung sind Ort und Projekt, um die es geht, geradezu symbolisch. Erdogan will auf dem Taksim-Platz im Gezi-Park von Istanbul eine Anlage mit Einkaufszentrum und Moschee im Stil einer ehemaligen osmanischen Kaserne bauen lassen. Dort stand in der Tat eine Kaserne und es war diejenige, die den reformwilligen Jungtürken um Atatürk heftigsten Widerstand bot, um die Scharia zu erhalten. Diese Kaserne wollen Erdogan und seine Anhänger in Istanbul wieder errichten, quasi als Symbol gegen die westlichen Einflüsse. Die laizistischen Gegner der Re-Islamisierung sehen in dem Platz auch ein Symbol: Für die Freiheit von der Scharia. Symbole sind Plakate der Geschichte, der Kampf um den Taksim-Platz wirft ein Licht auf die Zukunft am Bosporus.

Die Türkei ist ein Land mit eigener Kultur und eigener Geschichte. Es gehört zwar geographisch und kulturell nicht zu Europa, hat aber auch andere Lenker verdient als diktatorisch denkende, unberechenbare Führer vom Schlage Erdogans.

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