Auf zu preußisch-deutscher Größe

Was bedeutet nun 1854, die Krimkrieg-Phase, und 1914 - der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die dazugehörigen Kriegsziele der Mächte - für uns heute – nämlich 2015? Immer wieder, in den letzten 30 Jahren, konnte das Gefühl aufkommen, in einer Vorkriegszeit zu leben. In der Geschichte – wie 1815, 1918/19, 1945 - wiederholt sich derselbe Vorgang.

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Auf zu preußisch-deutscher Größe. Die Chance des Krimkrieges 1854, und dessen Folgen 1914 und 2014. Suprematie durch Annektionen. Teil III

   Pendellage zwischen West und Ost.

   Liberal-Konservativer Einfluß auf König Friedrich Wilhelm IV.

   Reluctant Preußen-Deutschland.

   Der König und das Verhältnis zu Russland.

  

   Europas politische Lage um die Mitte des Jahrhunderts.

   Englands Kriegsentschluß.

   Verhandlungspositionen Berlins und Londons.

   Palmerstone reserviert gegenüber Pourtalès.

   London und Berlin: wenig flexibel.

   Gebundene Hände rundum.

   Bunsens Votum für die Westmächte und Annektionen.

    Für und Gegen die Reduktion Russlands.

Bunsens große Annexion-Denkschrift: „Jetzt oder Nie!“

Der Aufstieg Preußens inauguriert.

    Offizielles Ziel: Restituierung des europäischen Gleichgewichts.

    Annexionen.                                                                                                                                             

    Sicherer Sieg.

    Bunsen: Die Westmächte sind stärker als Russland.

    Navalistische und Festlandsmächte.

 

     Die deutschen Kriegsziele 1914.

     Ein System indirekter Beherrschung.

     Sicherung der deutschen Machtstellung.

     Militärstrategisch.

     Industriell.

     Belgien als Operationsbasis gegen England.

     Russland schonen.

      Annexionen an der Ostsee, in Polen und Moldavien.

      Die Idee „Volk ohne Raum“ (Grimm): Siedlungsraum im Osten.

      Suprematie durch russischen Staatsbankrott.

      Industrie in Belgien und Ostfrankreich enteignen.

      Ein deutsches Kolonialreich in Europa, Afrika und Asien.

 

      Bunsen: Preußen stärken durch Annektionen.

      London umwirbt noch eimal Preußen.

      Auf der Höhe der Krise 1854: Analog 1914/2014.

      Hoffnungen, Gefährdungen, Tatsachen.

     

      Englischer Angriffsplan 1853.

      Bunsen für den „europäischen Generalkrieg“ (von Finnland bis zum Kaukasus).

      Der andere Weg der preußischen Politik.

Absage an Großmachtstatus, Risiko und aktive Politik.

     

      Wochenblatt-Partei für englisches Bündnis und Großmachtstatus.

Gegen eine Neutralität Preußens.

Für die Kombination mit Österreich und den Westmächten.

 

Englands Kriegsentschluß.

      Die Nebenregierung Prinz Alberts und das Preußische Bündnis.

      Englands Kriegsplan und preußisches Schwanken.

 

      Unsicherheitsfaktor: Das revolvierende Frankreich.

      Die Anti-Ost-Ausrichtung Westeuropas.

 

      Entwicklungsbremse: die preußisch-österreichische Dichotomie.

      Um die politische Deutungshoheit zwischen Ost und West.

      Das englische Bündnis - ein Traum. Das Scheitern der Usedom/

      Wedellschen Mission.

      Schluß.

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Pendellage zwischen West und Ost.

Hier geht es um die Hintergründe eines preußisch-englischen Bündnisses in der Krimkriegphase, 1852-55. Allerdings, das darf nicht verschwiegen werden, regt die Beschäftigung mit diesem Zeitraum dazu an, Fragen an die heutige deutsche und europäische Politik zu stellen. Schließlich befinden sich beide geographischen Räume, damals wie heute, in der politisch-strategischen Situation einer Pendellage zwischen Ost und West. Dass kein Staat, zum jeweils notwendigen Zeitpunkt, militärisch für alle Eventualitäten gerüstet ist, bildet eine der Binsenweisheiten der Geschichte. England und Preußen hatten, um die Mitte des 19. Jahrhunderts keine Reibungspunkte, verfügten in ihrer Geschichte über durchaus passable Erfahrungen miteinander, und hatten auch kulturgeschichtlich vergleichbare Wurzeln.

Liberal-Konservativer Einfluß auf König Friedrich Wilhelm IV.

So überrascht es durchaus wenig, wenn sich gegen Ende der vierziger Jahre in Preußen eine Gruppe von Wissenschaftlern, Offizieren und Diplomaten, mit liberalkonservativem Hintergrund, zusammenfand, die ein Bündnis mit England (gegen Russland) vertrat. Vertreter dieser Gruppe befanden sich in hohen militärischen und diplomatischen Stellungen, wie etwa Baron Bunsen, der Preußen, als Botschafter in London, vertrat. Unterstützt durch eine enge Beziehung zu dem damaligen preußischen König Friedrich Wilhelm IV., konnte der Diplomat und Gelehrte seine  außenpolitischen Vorstellungen höchsten Ortes zur Wirkung bringen. Dass sich dem durchaus traditionell begründete Widerstände in Berlin entgegenstellten, wird hier Gegenstand der Darstellung sein.

Reluctant Preußen-Deutschland.

Irgendwann sollte, im Verlauf der folgenden Jahre, der Vorwurf laut werden, der offizielle Vertreter der preußischen Politik, Ministerpräsident Otto von Manteuffel, würde „mit der Wirklichkeit der Dinge Verstecken spielen“. Hiermit ist ein Moment berührt, das durchaus - über die geschichtlichen Schranken hinweg - ein Schlaglicht wirft auf unsere heutige politische Situation in Deutschland und Europa. Ohne auf die spezifische Machtkonstellation der Führugselite in Berlin, während der fünfziger Jahre, näher eingehen zu wollen, sei dennoch betont, dass der Blick Preußens damals, ähnlich wie der Blick der Bundesregierung heute, nach Osten gerichtet war. Es bestanden seit 1807, zwischen Preußen und Russland, enge Beziehungen. Diese hatten sich von 1815 an zu einer russischen Überlegenheit ausgewachsen, zumindest über Preußen - wenn nicht sogar über Deutschland. Schließlich und endlich war, in der Schleswig-Holsteinischen Frage 1848/52, mit dem Diktat von Olmütz gegen Preußen, und damit auch für die deutsche Einigung, klar geworden, dass es um blanke russische Machtpolitik ging.

Der König und das Verhältnis zu Russland.

Das Gefühl offenkundiger Unterlegenheit führte in der deutschen Öffentlichkeit allgemein zu blankem Hass gegenüber Russland, wie ein hochgestellter britischer Beobachter bemerkte. Und auch, obgleich durch die Tradition mit Russland verbunden, standen die preußischen Konservativen vollkommen unter der Prärogative, ein Aufstieg Preußens gehe vor. Insofern standen sich die leitende politische Kraft in Berlin und deren Kritiker, das liberalkonservative Wochenblatt durchaus nicht unvereinbar gegenüber. Schließlich tendierte jedoch der dazwischen stehende Ministerpräsident durchaus dazu, Russland distanziert gegenüber zu treten. Überlagert wurde dieses, zur Entscheidung heranstehende Problem, durch den fortdauernden, latenten Dualismus zwischen Preußen und Österreich in Deutschland. Der Druck, vor dem Hintergrund der miteinander konkurrierenden konservativen und progressiven Fronten in Berlin, sich für oder gegen Österreich entscheiden zu müssen, verführte den König zu einer permanent in alle Richtungen schwankenden, entscheidungslosen Politik. Friedrich Wilhelm verstärkte diesen Eindruck zusätzlich dadurch, dass er zu dem Mittel politischer Missionen griff, was einerseits Hoffnungen schürte, andererseits den Widerstand der Berufsdiplomaten hervorrief, und in der Folge zu tiefer Enttäuschung in den Hauptstädten Europas führte. Es bleibe dahingestellt, ob – wie Winfried Baumgart betont - ein Sekretär des Königs hätte originären Einfluss auf die Wahl der außenpolitischen Methoden ausgeübt, oder aber dieses Verfahren eher zutiefst Ausdruck der Persönlichkeit des Monarchen war und blieb.

Europas politische Lage Mitte des Jahrhunderts.

Im Verlauf einer ersten Phase politischer Kontakte mit London waren es zumeist der liberal-konservativen Wochenblattpartei nahestehende  Wissenschaftler-Diplomaten, die auf Wunsch der Führungsspitze um den König in Berlin vor Ort explorierten. Diese kamen mit der überraschenden Meldung zurück, Österreich sei Preußens eigentlicher Gegner (Niebuhr). Wien unterlaufe die preußischen Annäherungsversuche, indem man sich Paris zuwende. Preußen seinerseits beschreite den Weg nach London, in der Erkenntnis des schwankenden Bodens auf dem die Beziehungen zu Österreich im Grunde ständen. Doch auch London befände sich im Zwiespalt, da Paris im Begriff stehe, die  napoleonische Politik wieder aufzunehmen.

Englands Kriegsentschluß.

Schließlich überschnitten sich auf dem Kontinent, in Belgien, die Operationslinien sowohl Londons, wie Paris' und auch jene Berlins. Mochte Frankreich nach Belgien greifen, dann würden England, wie  auch Preußen, hier militärisch gefordert sein. Sehr gut zu verstehen war, vor diesem Hintergrund, der Rat Bunsens, vorsichtig zu taktieren und sich nicht einseitig festzulegen. Umso erstaunlicher erscheint es deshalb, wenn der preußische Gesandte, gegen Anfang des Jahres 1853 feststellte, England mache sich daran, einen Krieg mit Russland vorzubereiten. Und noch erstaunlicher: Es gehe um einen europäischen Krieg. In Berlin schien es möglich, dass die liberal-konservative Wochenblatt-Partei in die Regierung einträte. Die „Heilige Allianz“ der Monarchien im europäischen Osten ging offensichtlich ihrem Ende entgegen.

Verhandlungspositionen Berlins und Londons.

Dieser Entwicklung des Jahres 1853 entsprach der König, mit der Entsendung des leitenden Wochenblatt-Partei-Mitgliedes Albert von Pourtalés, nach London. Whitehall suchte nach wie vor verlässliche Bündnispartner. Preußen schien, zumindest militärisch, einen solchen darstellen zu können. Doch stellte Berlin Forderungen, die den Bewegungsspielraum Londons einschränken mussten. Hatte doch Preußen direkte Grenzen mit Russland, stand doch Österreich nach wie vor zwischen den Fronten, und drohte aus Polen der Funke der Revolution jederzeit herüber zu springen, und bedrängte nach wie vor Petersburg Berlin durch dessen „pressure group“ vor Ort. Demgegenüber fürchtete London eine, und das ist der Begriff der Zeit, „entente cordiale“ zwischen Preußen und Österreich. Tatsächlich aber ging es, aus der Sicht des preußichen Botschafters Bunsen, darum, dass Österreich sich an der Donau und den Kaparthen eine starke Position verschafft habe, und Preußen die Verteidigung Deutschlands am Rhein überlasse. Dass es sich um den entscheidenden Punkt handle, machte er deutlich, indem er den Begriff „Lebensfrage“ für die preußische Politik in die Diskussion warf. Ein „mot clef“, das 1914 zwischen Theobald von Bethmann Hollweg und Jules Cambon erneut fallen sollte, und das hier, 1853, die Forderung gegenüber England verschärfte, dessen Flotte in der Ostsee gegen Russland aufmarschieren zu lassen.

Palmerstone reserviert gegenüber Pourtalès.

Doch die Geheimmission Pourtalès scheiterte. Obwohl am 2. Januar 1854 ein Vertreter Petersburgs versuchte, Preußen in der Folge von dem pro-englischen Kurs abzubringen, gelangten doch Pourtalès und Palmerstone, in einem abschließenden Gespräch, am 3. Januar dieses Jahres, nicht zur gewünschten Übereinkunft. Preußen suchte zunächst den Umfang einer Kooperation mit England auszuloten, weiter stand ständig eine französische Bedrohung am Rhein im Raum, und schließlich konnte (oder wollte) Palmerstone Preußen keine verbrieften Garantien zusagen. Die Verhandlungspartner operierten offenkundig noch, in einer ersten Phase der Verhandlungen, auf einer ersten Stufe der wechselseitigen Kompensationen, und warteten wohl noch auf das Entgegenkommen der Gegenseite. Überraschend war jedoch die Erkenntnis,  London habe sich ganz unkompliziert zu einem Krieg gegen Russland entschlossen. Kurz darauf fand der Berliner Emissär Gelegenheit, dem Partner in London Lord Clarendon gegenüber, noch eimal seine Bedingungen zu formulieren.

London und Berlin: wenig flexibel.

Pourtalès forderte eine englische Flotte in der Ostsee, sowohl zum Schutz der preußischen Küsten - wie dessen Seehandel. Weiter blickte Berlin sorgenvoll in Richtung Kopenhagen. Gegen jede Bedrohung von dort sollte England gleichfalls eintreten (eine Sorge, die 1914 ebenfalls eine Rolle spielen sollte). Es sei nämlich zu verhindern, dass etwa Kiel und Flensburg zu russischen Stützpunkten würden, auf die sich eine russische Armee, bei deren Vorgehen nach Süden, stützen könne. London seinerseits wollte in keinem Fall in den preußisch-österreichischen Antagonismus hineingezogen werden. Preußen seinerseits bot daraufhin an: sowohl eine Demarche in Petersburg wie die bewaffnete Neutralität, und, im Fall einer weiteren günstigen Entwicklung des Verhältnisses, eine sich verstetigende Koorperation.

Gebundene Hände rundum.

In Berlin allerdings kämpften Wochenblatt-Partei- und Kreuzzeitungs-Anhänger verbissen um den Einfluss auf den König. Die Liberal-Konservativen sahen die russische Herrschaft bis an den Rhein reichen. Unter diesem Vorzeichen hatten die Preußen wenig Sinn für die Interessen Englands, das sich dafür entschieden hatte, den Krieg gegen Russland derart zu führen, dass der russische Einfluss auf Mitteleuropa für längere Zeit nicht mehr spürbar wäre. Auch nahm eine traditionelle Vorstellung die Köpfe gefangen, Frankreich könne seine Grenzen nach Osten ausdehnen. Der Kreuzzeitungs-Vertreter Gerlach belastet die Wochenblatt-Partei mit dem Vorwurf, diese dränge zum Krieg mit Russland. Dahinter steckte zusätzlich die Frage, was Wien tun werde. Es lag nahe, dass Österreich, gestützt auf Russland, seinen Einfluss, zu Ungunsten Preußens, auf Deutschland verstärken würde. London warb zudem um Wien, hegte jedoch letztendlich kein Vertrauen in die Wiener Diplomatie.

Dieselbe Position verfocht der preußische Botschafter in London, der - nach innen und außen - vehement für einen Krieg gegen Russland eintrat und betonte, die Macht des Zarenreichs sei unschädlich zu machen und eine „große Vereinigte Flotte“ müsse „das Werk der Zerstörung im Schwarzen Meer“ vollenden.  Der Kaiser von Russland habe den Krieg haben wollen. Nun müsse Petersburg gezwungen werden, die Donaufürstentümer zu räumen. England und Frankreich würden an Preußen und Österreich zunehmend die Frage richten, ob diese dabei mitwirken würden oder nicht. Wenn Berlin ausweichend antwortete, käme die Antwort: „So seid ihr entweder keine Großmacht oder feindlich“. Ein österreichisches Nein würde bedeuten: Krieg in Italien.

Demgegenüber forderte Friedrich Wilhelm IV. seinerseits eine klare Antwort aus Whitehall. Der Monarch verschwieg keineswegs, er erwarte, das kleine Ländchen Neuenburg in der Schweiz als Kompensation zugesprochen zu erhalten. Andererseits sah der König seinen Plänen bereits durch die Tatsache den Boden entzogen, dass nämlich die preußische Armee nicht kriegsbereit war. Diese Antwort gab der Kronprinz Wilhelm seinem Bruder, auf dessen Forderung hin, ein militärisches Gutachten zur Lage zu erstellen. Allerdings lag ein Aufmarschplan gegen Russland bereit.

Bunsens Votum für die Westmächte und Annektionen.

Doch Bunsen in London lockte weiter mit territorialem Gewinn, den ein Krieg mit Russland verspräche. Im Jahr 1854, die Lage spitzte sich auf allen Fronten gleichzeitig zu, beharrte der Diplomat auf der Notwendigkeit, „die bestehende Länderverteilung einer Kritik zu unterwerfen“. Allerdings drückte Lord Clarendon nun seinerseits auf das Tempo. Er forderte „binnen 8 Tagen“ eine Entscheidung Berlins. Der Gesandte hielt dem entgegen, im europäischen Maßstab könne man sich vergegenwärtigen, dass Frankreich einen Plan gegen Italien habe. Preußen könne es nun nicht gleichgültig sein, dass Österreich dort angegriffen werde. Temperamentvoll wies er den Gedanken einer wie auch immer gearteten Neutralität Preußens zurück. Er forderte, Preußen und Österreich müssten eindeutig Stellung beziehen, doch andererseits seien finanzielle Belastungen aufzufangen, die durch Mobilmachung, Verluste an den Börsen, sowie bei Handel und Gewerbe, wie der Schifffahrt, zu gewärtigen seien. Eben den Westmächten neigte Bunsen mehr zu, als dem „unfreundlich, anmaßend und rücksichtslos“ auftretenden Russland.

Für und Gegen die Reduktion Russlands.

Friedrich Wilhelm dagegen sprach von protestantischer Gemeinsamkeit mit England, Schutz Österreichs vor der Revolution, der Garantie europäischen Besitzstandes, der Unantastbarkeit des Deutschen Bundesterritoriums und seinem Ländchen Neuenburg in der Schweiz. Überdies forderte der Monarch, falls die Westmächte zum Mittel der Insurrektion greifen würden, um das Zarenreich in die Luft zu sprengen, was bekanntlich Bethmann Hollweg 63 Jahre später betrieb, werde er sich mit Petersburg und Wien, auf Tod und Leben verbinden. Es stand also zu erwarten, dass ein Revolutionskrieg die gänzliche Auflösung Mitteleuropas im Gefolge haben werde. Gegen diese Realität der politischen Lage wurde, bedingt durch die schwer einschätzbare Politik des neuen französischen Kaisers Napoleons III., sowie jener Österreichs und auch Preußens, die Frage gestellt: würde Frankreich mit England gehen, ginge darum, eine „lang vorhergesehene[n] Frage“ zu lösen, nämlich jene der drohenden Machtstellung Russlands „nicht allein gehen die Türkei, sondern d[as]em [ganze] gesamten übrige[n] Europa [gegenüber], also eine Machtfrage. Kurz: es gehe darum, „der aggressiven und anmaßenden Macht Russlands entgegenzutreten“.

Bunsens große Annexions-Denkschrift: „Jetzt oder nie!“

Auf diesen Kurs, die Macht des russischen Reiches zu brechen, schwenkte Josias von Bunsen in London ungesäumt ein. Mit dem Instrument einer großen Denkschrift suchte er seinen Dynasten zu bestimmen, ein Bündnis mit England einzugehen. Friedrich der Große, Pitt und Napoleon hätten das nicht erreicht, was jetzt möglich sei, so lautete Bunsens Parole. Schon während des 7-jährigen Krieges bestand demnach in London ein gewisses Misstrauen gegenüber Russland. Der Botschafter eruierte, so eines der begleitenden Dokumente, gegenwärtig seien die politischen Eliten in den westlichen Hauptstädten überzeugt, „der Zweck des großen Kampfes werde sein, Rußland auf seine natürlichen Grenzen zurückzuweisen“. In dem Bewusstsein, das historische Zeitfenster werde sich bald schließen, appellierte Bunsen dringend an seinen König mit dem Ausruf: «Jetzt oder nie!«. Er führte an, die räuberische Politik des Zaren Alexander habe darin bestanden, Preußen eine ganze Provinz, und Schweden Finnland entrissen zu haben. Weiter wies er auf das schwere Joch hin, unter welches Russland Preußen und Österreich zwischen 1817 und 1848 gebeugt habe. Russland wünsche kein starkes Deutschland. Trete Preußen an die Seite Englands und Frankreichs, dann würde das ein solches Gewicht ergeben, dass der Kampf kurz und schnell entschieden werde. Damit findet sich bereits hier, wie 1914, die Vorstellung vom kurzen Krieg, der bereits dann beendet sein werde, “wenn das Laub fällt“. In gleicher Weise empfand Bunsen diesen Kampf Europas mit Russland ebenfalls als „Weltkampf“, als „Kampf der Imperien“, wie dies bei Theobald von Bethmann Hollweg und Karl Lamprecht vor 1914 der Fall war.

- Offizielles Ziel: Restituierung des europäischen Gleichgewichts.

Der Gesandte appellierte dafür, gleichsam über den eigenen Schatten zu springen, die Machtziele Englands und Frankreichs zurücktreten zu lassen, und alle Kraft in die Restituierung des europäischen Gleichgewichts zu investieren, zu Gunsten der von Russland beschädigten Mächte. Aus seiner Sicht war das Gewicht Preußens so groß, „daß der Kampf kurz, die Entscheidung nahe und ohne große Erschütterungen möglich sei, ja sicher“.

Bunsen sucht Friedrich Wilhelm IV. gleichsam mit den dann gegebenen territorialen Möglichkeiten Preußens im Osten zu ködern. Es gehe um große Veränderungen.

- Annexionen.

Im Norden müsse Schweden die Aaland-Inseln und Finnland erhalten. Im Süden sei die russische Herrschaft auf dem Schwarzen Meer zu brechen, und von diesem nicht nur die Krim abzutrennen. Doch eine neue „Weltdictatur“ solle so nicht errichtet werden. Wir erinnern sehr wohl: das Rußland der autokraischen Zaren war Europa zu mächtig geworden. Hier, so Bunsen weiter, solle sich Österreich ausdehnen. Preußen dagegen müsse die polnische Königskrone anstreben. Dafür könne Österreich Galizien, und Preußen die polnische, östliche Hälfte des Großherzogtums zum Opfer bringen. Diese Forderungen scheinen uns sehr wohl mit der Kriegszieldiskussion der Jahre 1914-17 verwandt.

- Sicherer Sieg.

Bunsen umwirbt seinen König noch einmal eindringlich: „Schließt sich Preußen im gegenwärtigen Augenblicke an die Westmächte und Österreich an, … so legt es ein so entscheidendes Gewicht in die Waagschale, daß der Kampf  kurz, die Entscheidung nahe und ohne große Erschütterungen möglich, ja sicher ist.“

Bunsen: Die Westmächte sind stärker als Russland.

Navalistische und Festlandsmächte.

In keinem Fall solle Preußen gegenüber Österreich zurückstehen. Wien solle auf Böhmen und Mähren verzichten, sich verteidigungsfähige Grenzen verschaffen und der Tatsache in die Augen sehen, dass die Erblande von Deutschland losgerissen wurden. Preußen, und nicht Österreich, solle Deutschland beherrschen oder leiten. Und das, was nun folgt, entspricht den Gedanken des Leipziger Univeralhistorikers Karl Lamprecht, der seinen Schulfreund Bethmann Hollweg vor und im Weltkrieg vor Augen führte, es solle eine zentrale europäische Konföderation entstehen. Bei Bunsen hieß das 1854: bestehend aus den „Mittelmächte[n] Europas, Schweden, Dänemark, Holland, Sardinien und Neapel“. Ausdrücklich warnt der Londoner Geschäftsträger davor, gegen die Westmächte zu votieren, denn „die freiere Position der beiden Seemächte“ bedeute, dass diese jederzeit „Einfluß genug“ besäßen, um „andere Mächte entweder für sich zu gewinnen oder ihnen jede feindselige Politik unmöglich zu machen“. „Preußen würde am Rhein wie am Njemen allein stehen, und - allein geschlagen werden“.

Die deutschen Kriegsziele 1914.

Ein System indirekter Beherrschung.

Der Weg von 1854 nach 1914 führt zu den Kriegszielen Bethmann Hollwegs vom August/ September. Wie eng dabei der Austausch zwischen den höheren Beratern des Kanzlers und den Vertretern der einzelnen Industrieverbände, und sonstigen Interessengruppen, war, zeigen sowohl die Statements Kurt Riezlers von 1930, in denen er behauptet, von Roselius und Mannesmann bis zu Falkenhayn reiche die Idee wirtschaftlicher Annexionen und imperialistischer Ziele. Diese hätten quasi in der Luft gelegen. Den Teil eines umfassenderen Konzeptes bildeten diese Vorstellungen, nämlich des Krieges mit der imperialen Weltmacht England, die Deutschland beerben wollte. So war etwa die Idee eines mitteleuropäischen Staatenbundes, als Urzelle der künftigen Weltmacht Deutschland, unbestritten. Riezler sagte dazu 1930, „die Grundidee sei die Schaffung eines mitteleuropäischen Staatenbundes unter Führung Deutschland[s] gewesen. An diesem Bund sollten Frankreich und Belgien durch den Frieden angegliedert werden. Unter Schonung der Souveränität und unter Wahrung der territorialen Integrität dieser Staaten, sollten alle Staaten durch Zollunion u[nd]. a[nderem]. untereinander einen Block bilden, gegen den 'angelsächsischen Wirtschaftsimperalismus`. Die Neutralen hätten diesem Bunde beitreten müssen; es sei ihnen nichts anderes übriggeblieben, da sie ja sofort in die Abhängigkeit dieses unter deutscher Führung stehenden europäischen Wirtschaftsbundes geraten wären“.

Es sind, von verschiedenen Seiten, den Zeitgenossen wie der historischen Forschung in Deutschland, Thesen aufgestellt worden, wie etwa jene, es seien im Großen Hauptquartier, um eine Schreibmaschine herumstehend, spontan Ideen gesammelt worden und so die Kriegsziele von 1914 entstanden. Oder, es habe in Luxemburg, um den Reichskanzer herum, immer eine Zentrale der Anti-Annexionisten gegeben, den „Bethmann-Kreis“. Als Fritz Fischer 1961 diese Vorgänge aufdeckte, concedierte dessen großer Gegner Gerhard Ritter: man gewinne „daraus den Eindruck“, Bethmann Hollweg habe „im Hauptquartier vor dem Wendepunkt der Marneschlacht, unter dem Einfluss viel zu optimistischer Berichte des Generalstabs immerhin ernsthaft den Gedanken erwogen, Frankreich ein für alle Mal unschädlich zu machen“ (analog Goebbels und Hitler im August 1939).

Sicherung der deutschen Machtstellung.

- Militärstrategisch.

Dass auch dies zutrifft, zeigt eine Denkschrift im Nachlass des Bethmann-Freundes und Universalhistorikers, Karl Lamprecht, welche die Gedanken zweier Bonner Nationalökonomen wiedergibt; und die jedenfalls vor dem 2. September 1914 fertiggestellt war. In dieser geht es in erster Linie um die politischen und wirtschaftlichen Ziele, die eine deutsche Machtstellung sichern und befestigen sollten. Diese sei vorrangig gegen England auszubauen. Dieser Gedanke entsprach durchaus den Vorstellungen des Generalstabschefs von Moltke, Anfang des Jahres 1913, und jenen Tirpitz' (Januar 1915); auf denen der deutsche Operationsplan, in dessen Focussierung auf Belgien und Nordfrankreich, gründete. So ging es von Anfang an um die Weltstellung Englands, die, nur über die Okkupation der belgischen und nordfranzösischen Küsten, ernsthaft zu bedrohen sei. Entsprechend ging Hitler 1940 zum Angriff auf Westeuropa über und besetzte die holländischen, belgischen wie französichen Küsten und Hafenplätze. Es reichten bereits 1914 die Planungen von einer Bedrohung der englischen Küste, deren Seehäfen, wie der Themsemündung etc., über die Kontrolle des Mittelmeeres, bis zum Erwerb von Marokko und Tunis, als Grundlagen der Überlegung, wie Frankreich ein für allemal unschädlich zu machen sei, und damit eine für das britische Empire unerträgliche strategische Basis zu gewinnen wäre. Dazu sei weiter die Westgrenze von Lüttich bis Belfort wirtschaftlich wie militärisch zu befestigen. Frankreich sollte schwer getroffen werden. Das sei zu bewerkstelligen über die  „Minderung seines territorialen Bestandes an der Nordsee und am Mittelmeer, sowie durch die Auferlegung einer schweren Kriegsentschädigung“.

- Industriell.

  Belgien als Operationsbasis gegen England.

Die französische Industrie sei zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Es wäre ferner an die Wiederherstellung Belgiens nicht in der alten Form zu denken. Es sprächen eben wirtschaftliche Gründe dagegen. Belgien war, künftig in der Form einer „self governing Colonie“ vorstellbar. Südliche Gebiete, von den Wallonen besiedelt, „die belgische Provinz Luxemburg, mit Teilen der Provinzen Namur und Lüttlich, vielleicht sogar bis zur Masslinie, seien dem Großherzogtum Luxemburg“ zuzuschlagen. Weiter ging es um die Erzgebiete und Kohlelager Frankreichs im Nordwesten um Lille herum.

Russland schonen.

Anders sollte mit Antwerpen und Gent, mit den Hafen- und Industriegebieten dort, umgegangen werden. Uns interessieren hier jedoch vor allem die ausführlichen Vorstellungen, die sich auf Russland bezogen. Diese wurden entwickelt, auf Grund der engen Bündnisbeziehungen zwischen Petersburg und Paris mit dem französisch-russischen Bündnis von 1892. Dieses sei zunächst zu sprengen. Im Gegensatz zu den brachialeren Vorstellungen von 1854/55, sagt 1914 der erste Satz zu Russland, dieses dürfe „nicht, wie Frankreich, in seinem Lebensnerv getroffen werden“. Es dürften „höchstens Gebiete entzogen werden, die nicht zum eigentlichen Russentum gehören. Auch muss das Streben stets darauf gerichtet sein, den Gegensatz zwischen Russen und Polen in alter Schärfe zu erhalten“.

Annexionen an der Ostsee, in Polen und Moldavien.

Der Verlauf der künftigen deutschen Ostgrenze wurde weitgehend fixiert. Eine Verbesserung der bisherigen ungünstigen Grenze sei zu erreichen. Im Vorgriff auf militärische Sachverständige formuliert die Denkschrift, die „Grenzlinie“ verlaufe künftig „etwa vom Treffpunkt der drei Grenzen im Südosten Schlesiens zunächst – den Grenzfluß des Gouvernements Petrikau etwa bis Thomaschew verfolgend – so Nowo Georgiewsk am Einfluß des Narew in die Weichsel, von dort weiter im Tale des Narew und seines Nebenflusses Bobr bis Grodno und endlich von dort, Wilna und Dünaburg außerhalb liegen lassend, an die Düna und weiter nach Norden an den Rigaer Meerbusen östlich von Riga“.

Vorteilhaft schien, dass „die neue Grenzlinie...kaum länger als die bisherige“ sei und „auch strategisch den Vorzug verdiene[e]“. „In der östlichen Hälfte der Ostsee“ könne ein „Kriegshafen“ entstehen, „von dem aus … die russische Ostseeküste mit Petersburg“ zu bedrohen sei.  Angegliedert werden sollten „Gebiete“ wie das um „Lods, das so oft 'eine deutsche Industriestadt' genannt worden“ sei. „5000 deutsche[n] Kolonien, die im russischen Weichselgebiet“ angenommen wurden, 'besetzen hauptsächlich den nordwestlichen Grenzstreifen' der dem Reich mit angegliedert werden würde. Festungen wie Grodno und Kowno seien die einzigen Städte in diesem neuen Gebiet. Riga, als bekanntlich deutscher Wurzel, „und die Industriestädte im südwestlichen Polen“, bauten ebenfalls auf deutschen Gründungen auf, so die Denkschrift.

Die Idee „Volk ohne Raum“ (Grimm). Siedlungsraum im Osten.

Wie breit offenbar das Interesse an starker Expansion nach Osten war, zeigt der Abschnitt „e)“ dieser Ausführungen: „Wichtiger ist aber, daß sich auf die dargelegte Art auch für die Zwecke der inneren Kolonisation ein Tätigkeitsfeld gewinnen läßt, das an Ausdehnung Ost- und Westpreußen bedeutend übertrifft. Mit Ausnahme des Lodser Industriegebiets scheint hier auf dem Boden Russisch-Polens die Bevölkerung nicht dicht zu sein und noch schwächer ist das Land der katholischen Litauer in den Gouvernements Suwalkie, Kowno und Wilna, sowie der protestantischen Letten in Kurland bevölkert. Schon an sich ist Raum für eine großzügige Besiedlung der deutschen Kolonisten vorhanden. Er muß aber – worauf noch zurückzukommen ist, … - künstlich noch beträchtlich vergrößert werden, damit aus unserem Bevölkerungsüberschuß hier ein starkes Germanenbollwerk geschaffen, dem Zuwachs an Industrie auch ein Zuwachs an Landwirtschaft gegenübergestellt und damit das politische Gleichgewicht gewahrt, die Volksernährung weiter verselbstständigt und eine Versorgung mit ländlichen Arbeitern vom Ausland emanzipiert werde“.

Suprematie durch russischen Staatsbankrott.

Zunächst sei das Bündnis mit Frankreich zu sprengen, die russischen Zentralbanken zu schwächen und, was zu erwarten sei: das wäre ein starker Kurssturz der russischen Staatspapiere. Im Einzelnen wird ausgeführt: „Ein solcher völliger oder teilweiser Staatsbankrott würde das besiegte Frankreich schwerer treffen, als alle anderen Länder zusammen. Es würde ihm für lange Zeit die Lust, vielleicht auch die Kraft nehmen, auf weitere finanzielle Abenteuer Rußland gegenüber sich einzulassen“.

Deutschland „als finanzieller Retter“ Russlands, das war wohl eher ein Traum von Wissenschaftlern. Lamprecht setzte setzte als Kommentar daneben, ein „?“-Zeichen. Interessant, dass exakt wie im Märzprogramm des Botschafters Bunsen, von 1854, hier Schweden Finnland, „als Preis für seine Neutralität“, zugesprochen erhält. Allerdings verbunden mit der Auflage, „eine Kolonisation großen Stils“ durchzuführen und dadurch dem „Germanentum Europas“ derart zurückgewonnenes Gebiet zu erhalten.

Industrie in Belgien und Ostfrankreich enteignen.

Im Folgenden wird in den Überlegungen der deutschen Reichsleitung auf Belgien Bezug genommen, und damit dessen zentrale Position seit Kriegsplanung, operationsplan und Kriegsbeginn. Die Problematik zwischen Flamen und Wallonen, sowie daraus möglicherweise zu ziehende Vorteile für eine Assoziierung mit dem  Deutschen Reich, wird eingehend betrachtet. Insoweit bis zu der Überlegung, gegebenfalls Luxemburg zu vergrößern, einer Einverleibung von Teilen Belgiens näher zu treten und vor allem die Produktionsmittel des Landes in die Hand zu nehmen. Für Lamprecht unverständlich, da ohne übergreifend „höhere Gesichtspunkte“, wie er anmerkte, konzentriert sich Schumacher 1914 ganz auf den „Kriegsschatz von 500 Millionen Mark Mittel zum Neu- und Ausbau“ der Flotte. Hier mit Bethmann Hollweg durchaus konform, der am 31. August Tirpitz gegenüber vom Einsatz der Hochseeflotte abriet. Das könne, mit größerer Aussicht auf Erfolg, im Nachgang (zum Friedensschluß) mit Unterstützung der dann erbeuteten französchen geschehen. Einen „Fonds zur Versorgung der Kriegsinvaliden und“ Gefallener, sowie „zum Ausbau“ des „Kabelwesens“ und der „Nachrichtendienste[s]“, der „innere[n] Kolonisation“ und für die „Enteignung in neu erworbenen Gebieten“ wurde gleichfalls ins Auge gefaßt.

„Große Städte mit rein französischer Bevölkerung, wie Nancy und Lunéville“, sollten nicht annektiert werden, „denn wir können sie national nicht verdauen“. Das von den Nationalökonomen propagierte Mittel der Enteignung, um die von Frankreich abzutrennenden Gebiete in die Hand zu nehmen, nahm sich bei weiten nicht so charmant aus, wie das die verharmlosend-überhebliche Formulierung Kurt Riezlers, Clemens Delbrücks und Bethmann Hollwegs im Septemberprogramm für die deutsche Expansion in Mitteleuropa in Aussicht stellte. Es leibt zu fragen: Ist der Weg von NATO und EU heute „charmanter“?

Die herben finanz- und geldpolitischen Erfahrungen von 1870 gipfeln in der Bemerkung: „Wo aber ein Bedarf nach baren Zahlungsmittel überhaupt nicht vorliegt, ist die Kriegsentschädigung gewissermaßen in Naturalien zu leisten: in Grund und Boden, gewerblichen Produktionsanlagen oder ihren Aktien, Eisenbahnen u[nd]. Ä[hnlichem].“

Auf die Kohleindustrie dieser Gebiete am Pas de Calais legen die Gutachter besonderen Wert. Wie das gesamte deutsche Oberkommando sind diese der Überzeugung, die Küste der Departements du Nord und des Departement de Calais seien im festen militärischen Besitz zu halten. Daraus ergebe sich fast von selbst, dass auch auf die Kohleindustrie dieser Gebiete schwer die Hand zu legen sei. Die Großindustrie ihrerseits habe Frankreich zu erobern. Und dies durch den Griff nach den Rohstoffen und den Produktionsmitteln der betroffenen Staaten.

Ein deutsches Kolonialreich in Europa, Afrika und Asien.

Im Osten seien deutsche Aussiedler anzusetzen, welche die innere Kolonisation vorantrieben. Dafür wären weite Gebiete frei zu machen. Russland sollte so, durch die Ansiedlung deutscher Siedler, geschwächt werden. Um die zunächst verlorenen Kolonien wieder zu gewinnen, war durchaus - im Einklang mit dem durch Belgien und Nordfrankreich ausgreifenden deutschen Operationsplan - erwogen, den belgischen Kongo zu erwerben. Keinesfalls wurde daran gedacht, eine Rückgabe nach einem Friedensschluss zu betreiben. So wie dies Bethmann Hollweg gegenüber dem englischen Botschafter Goschen, am 2.8.1914, offen gelassen hatte. Vielmehr sollte ein deutsches Mittelafrika durch eben diese Kolonie Belgiens Wirklichkeit werden; ein deutscher kolonialer Block, der sich von der Westküste Afrikas bis zur Ostküste, quer durch den Kontinent, erstrecken würde. Weiter entwickeln die Bonner Wissenschaftler den Griff nach Marokko (analog einer Forderung der Marine, 1944). Schließlich wird so deutlich, es bildete das alleinige Ziel des Krieges, das Erbe des britischen Empire anzutreten. Denn, so das Urteil der Gutachter von 1914, ausgreifende Ziele, nun gegenüber England, seien schließlich erst nach einem Sieg über das Inselreich zu verwirklichen. Das formulierten die Bonner Wirtschaftswissenschaftler, indem sie ausführten:

„Sollten wir endlich England gegenüber einen Sieg erringen, der uns die Beanspruchung eines kolonialen Siegespreises ermöglicht, so dürften an erster Stelle die ehemaligen Burenstaaten mit Rhodesien zur Verbindung mit unserem übrigen Kolonialbesitz und an zweiter Stelle Singapore und Ceylon in Frage kommen“ (Hervorh.v.m., B.S.).

Damit wurde die damals, und bereits vor dem Krieg, herrschende Hypertrophie des Denkens noch einmal brachial unterstrichen und verdeutlicht, dass es Deutschland in Wahrheit keinesfalls lediglich um die Neuordnung der europäischen sondern der Weltkarte ging. Hier durchaus mit Bunsen einig, der 1854 offiziell keinesfalls eine neue „Weltdiktatur“ wollte. Wiewohl er, angesichts des zögerlichen Königs, dieses wohl zurückgestellt haben mag. Denn der Durchbruch Preußens zur fest etablierten Großmacht mochte durchaus als Zwischenziel gelten.

Bunsen: Preußen stärken durch Annektionen.

Diese, Bunsen im März 1854 zur Last gelegten, exzessiven Annektionsziele gegenüber Russland wiedersprachen allerdings frontal der Politik des Zauderns und Verzögerns, die Friedrich Wilhelm IV. verfolgte. Der preußische Gesandte in London vertrat damit eindeutig die Vorstellung derjenigen Gruppe, die das Bündnis mit den Westmächten vertrat, und votierte so unübersehbar für den Krieg mit Russland. In der Folge entzündete sich ein Flächenbrand im politischen Berlin, der sich zwischen den politischen Parteien liberaler und konservativer Prägung explosionsartig ausbreitete. Einerseits die Quasi-Nötigung des Königs, andererseits Vorstöße und Äußerungen von verantwortlichen Mitgliedern der Wochenblatt-Partei, wie zum Beispiel Albert von Pourtalès, führten zu einem Machtkampf zwischen den Parteigängern liberaler und konservativer Prägung am preußischen Hof. Damit überschritt die Diskussion um die Pro-Ost oder Pro-West Orientierung der preußischen Außenpolitik ihren Kulminationspunkt. Der Versuch scheiterte, dem König das englische Bündnis abzupressen. Damals trat, mit dem Ausscheiden der Wochenblatt-Partei aus sämtlichen politischen Positionen, ein – in dessen Fernwirkung von geschichtlichem Ausmaß -  geradezu schicksalhafter politischer Erdrutsch ein. Die Auswirkungen dieser Tage im März 1854 sollten bis in unsere Tage reichen.

London umwirbt noch eimal Preußen.

Denn, so wie Bunsen, nach seiner Einlassung und der Ablehnung des englischen Bündnisses durch den Dynasten, fragte, wo nun Preußens „Stellung in Europa“ und in Deutschland bliebe, so stellt sich diese Frage, im Jahre 2014, der Berliner und Brüsseler und NATO-Politik. Schließlich sehen diese Mächte sich, heute wie damals, gezwungen, zwischen West- und Ostanbindung zu entscheiden. Als erhellend mögen sich heute die Ausführungen Lord Clarendons lesen, die dieser im Gespräch mit Bunsen machte, und an die Addresse des preußischen Königs wie dessen Ministerpräsidenten richtete. Er führte gegenüber Bunsen, quasi in der Funktion eines „Brautwerbers“, aus, Preußens „Heer, das wisse man, könne in 14 Tagen jeden Einfall unmöglich machen. Außerdem rücke jetzt Oesterreich mit 150.000 Mann heran, an die Donaulinie. Am meisten aber betrübt, … dass Eure Exzellenz [von Manteuffel] noch von der 'türkischen Frage' … . sprächen. Er wolle sagen, es sei nicht allein eine europäische Frage, sondern eine deutsche, und wieder insbesondere eine preußische Frage. Preußen solle sich nicht verhehlen, dass seine Freunde für es zitterten: seine politische Bedeutung, als erste deutsche, und größte protestantische Macht des Festlandes stehe auf dem Spiel. Er spreche als Engländer, als Protestant, als Freund. Oesterreich habe Preußen überflügelt: noch sei es Zeit anzuknüpfen an alles Gethane. Der Krieg könne nicht lange dauern: … es werde nicht mal zweier Feldzüge bedürfen“. (Hervorh.v.m., B.S.)

Auf der Höhe der Krise 1854: Analog 1914/2014.

Hoffnungen, Gefährdungen, Tatsachen.

So wie das Bild vom kurzen Krieg des Jahres 1914 auftritt, so hatte Bunsen, angesichts des erneuten russischen Druckes auf Berlin, „den Kriegschutz der englischen Flotte in der Ostsee, [und] zum Schluss die preußische Erwerbung der russischen Ostseeprovinzen sehr deutlich zwischen den Zeilen verlangt“.

Doch war die Lage keineswegs so geartet, dass sich ein frisch-fromm-fröhlicher Krieg bereitwillig vom Zaune brechen ließ. Einerseits war die russische „Präponderanz an der Spree“ wieder hergestellt „und befestigt“. Auch der Versuch, „Preußen und den König unabhängiger von Rußland zu stellen, war völlig gescheitert“. Berlin erkannte zunehmend die Gefahr, in ein „zentral europäisches Kriegs-Theater“ hineingezogen zu werden. Einmal an der „Heerstraße zwischen Ost und West“ gelegen, weiter wenn Polen von den Westmächten angegriffen werden sollte, und ferner, wenn sich Preußen weiter neutral hielte, würden die anderen Mächte keine Veranlassung sehen, den Kriegsschauplatz nicht von der Donau an die Newa oder den Rhein zu verlegen.

Mitte des Monats März klärte sich der Kriegswille Englands und Frankreichs so weit, dass es zu einem Kriegshilfe-Vertrag mit dem Osmanischen Reich kam. Weiter aber verstärkte sich gleichzeitig der Druck Frankreichs auf die Rheinlinie, und Ende des Monats schien es möglich, dass Paris auf Berlin marschierte. Demgegenüber aber vertrat der Londoner Geschäftsträger nach wie vor seinen Plan einer Vergrößerung Preußens auf Kosten Russlands. Der Vorwurf der Bunsen gemacht wurde, darüber ein Abkommen getroffen zu haben, entsprach jedoch keinesfalls den Gegebenheiten. Allerdings hatte er sich wohl, für die preußischen Verhältnisse zu deutlich, zum Parteigänger der Kriegspläne Englands gemacht.

Englischer Angriffsplan.

Es erscheint durchaus nicht fernab, wenn wir heute - unter dem Gesichtswinkel der Ukraine- und Krimkrise – uns in Erinnerung rufen, dass die NATO gleichwohl in den vergangenen 10 Jahren das Gleiche getan hat, was Bunsen am 1.3.1854 Friedrich Wilhelm IV. vorschlug; nämlich Russland durch Gebietsabtretungen derart zu schwächen, dass es als Großmacht und Machtfaktor auf Jahre, beziehungsweise Jahrzehnte, nicht mehr in Erscheinung treten könne. Eine Entwicklung die sich nach 1991, dem Zusammenbruch der UdSSR, auch tatsächlich vollzog. Und die Einbettung in eine westliche Staatengruppe, viele mögen an die NATO und die EU denken, fand ihre Parallele in den Besprechungen des preußischen Botschafters in London. Weiter mögen sogar Parallelen zu der Enthüllung der Angriffspläne der britischen Führungselite auf Russland, im Oktober 1853 nachzuzeichnen sein. Auch der Prinzgemahl Albert hatte gegenüber Bunsen, bereits vor geraumer Zeit, ähnliche Vorstellungen geäußert. Der preußische Geschäftsträger erklärte im Nachhinein, deutlicher werdend, im Oktober 1853 - das Osmanische Reich erklärte Russland den Krieg - habe er auf Schloss Windsor, aus der Hand Palmerstones, den Plan der Westmächte zur Kenntnis erhalten, wie mit Russland verfahren werden solle. Es sei „der Beschluss der Westmächte [gewesen], im Interesse europäischen Gleichgewichts, eventuell zu einer Gebiets-Verringerung Rußlands alle Kräfte aufzubieten“.

Es habe sich dabei um „vier Denkschriften über die orientalische Frage“ gehandelt. Diese seien aus den Federn des Prinzen Albert, der Lords Aberdeen, Russell und Palmerstone geflossen. Dieser habe „die Idee eines Austausches der Lombardei gegen die [Donau-]Fürstentümer“ vertreten, um Österreich mit ins Boot zu holen. Diesen Plan habe ihm, im Monat Februar, der Prinz Albert, bestätigt. Nun seien London und Paris hinter diesen Plan - und auch die lombardischen-walachische Rochade mit Österreich - getreten; das sei am 14. Februar bestätigt worden. Lord Clarendon habe über die „Grundidee des Operationplanes“ gesprochen, und er, der preussische Gesandte, habe über den „Beschluß der Westmächte“ nach Berlin berichtet. Gerüchte über die „'Eroberungs-Pläne' der Westmächte“ seien seit November 1853 in London im Umlauf gewesen. Bunsen habe sich bemüht, eine Erklärung Englands dazu zu erhalten. Nachdem London und Paris Übereinkünfte getroffen hätten, sei auch Lord Clarendon bereit gewesen, dazu Erklärungen abzugeben. Dieser habe formuliert:

„Preußen welches von dem unmittelbaren Kampfplatz an der Donau entfernt ist, und seine Ostgrenze offen hat, gegen Rußland, das mit einem starken Heere, schlagfertig in Polen steht, kann an den ersten Kriegs-Operationen nicht teilnehmen, und darf nicht gedrängt werden, während England und Frankreich zur See, und Oesterreich, - wie angenommen wird – an der Donau einschreiten“.

Bunsen für den „europäischen Generalkrieg“ (von Finnland bis zum Kaukasus).

Preußen solle eine ehrgeizigere Politik verfolgen, empfiehlt Bunsen dem, der Wochenblatt-Partei zuneigenden, Kronprinzen. Damit widerrät der Geschäftsträger seiner Formulierung, er habe keinesfalls zu einer offensiven Politik gegenüber Russland geraten. Bunsen plädiert - neben einer ehrgeizigeren Politik - dafür, den bestehenden Einfluss auf den König zu koordinieren und unter Beachtung „strenger Disziplin, Verschwiegenheit und Muth sowohl gegenüber dem Auslande als namentlich gegenüber einer öffentlichen Meinung zu handeln, der man die letzten Zwecke nicht von Hause aus mitteilen“ könne. Bunsen warnt den Kronprinzen Wilhelm „vor einer gefährlichen Zukunft“. Bunsen plädiert offen für den Krieg mit Russland, und die Aufwertung Preußens durch Annexionen. Diese Vorstellung des preußischen Geschäftsträgers berührte sich mit den Zielen der Westmächte gegenüber Russland, nämlich nicht mehr lediglich den Krieg „an der Donau“ in Form „eine[r] Lokalisierung zu führen“, und lediglich „das begangene Unrecht Rußlands für diesmal zu ahnden, sondern ... die Wiederkehr ähnlicher Übergriffe ein für allemal [und] ein Russisches Übergewicht über Mitteleuropa auf sein Maß zurückführen“ (Hervorh.v.m., B.S.).

Hier berühren sich die Kriegsausbrüche 1854 und 1914. Die Lokalisung des Konfliktes 1914 auf Serbien berührt sich mit dem Plan von 1854, zunächst in Moldavien gegen Rußland anzusetzen. Dass rasch diese begrenzte Vorstellung überlaufen wurde, und das 1854 wie 1914, drängt sich hier auf. Der preußiche Botschafter sieht das „europäische Gleichgewicht“ nunmehr „gegen Rußland gerichtet“, nachdem die Quadrupel-Allianz inzwischen durch das Wiener Protokoll sich zu einer „Quadrupelaction“ gegen Russland vereinigen werde. So nimmt Bunsen erneut eindeutig Stellung gegen den „Lokalkrieg“, und verwendet er sich mit aller Energie für den „europäische[n] General-Krieg“ der „kurz und entscheidend“ ausfallen werde. Hier der erneute Bezug zu 1914. Das Bild vom kurzen Krieg war vor 1914 leitend in den Köpfen, sowohl der Generalstäbler wie der leitenden Politiker. Dieser Generalkrieg dehne sich „von Finnland bis nach der Donau und  Kaukasisen hinunter“. Diese Vorstellung mochte schon den unbedarften Beobachter überraschen, haftet dieser doch bereits im damaligen Maßstab ein Geruch von Weltkrieg an. So verdient diese Aussage des preußischen leitenden Diplomaten in London insgesamt, und im Zusammenhang, zitiert zu werden. Bunsen faßte geradezu provozierend scharf zusammen:

„Jedenfalls wird der See- und Lokal-Krieg langwierig und unentschieden sein, deshalb ungeheure Opfer ohne entsprechendes Resultat verschlingen: der europäische General-Krieg gegen Rußland ist kurz und entscheidend. … Der Zweck des Krieges gegen Rußland muß doch zunächst der sein, Rußland zu bezwingen. Ist dies geschehen, so legt man ihm solche Friedensbedingungen auf, als für die Ruhe und das Wohl Europas notwendig erscheinen. Aus diesem Gesichtspunkt kann nicht der Lokalkrieg am Schwarzen und Baltischen Meer, sondern allein der Generalkrieg von Finnland bis nach der Donau und Kaukasien hinunter, rational erscheinen.“ (Hervorh.v.m., B.S.)

Damit war das Kriegsziel, der Zweck des Russlandkrieges, aus der preußisch-liberalen Sicht offengelegt. Bunsen wagte offensichtlich, dies so deutlich zu sagen, da er sich mit den Vorstellungen in London und Paris eins wusste.

Der andere Weg der preußischen Politik. Absage an Großmachtstatus, Risiko und aktive Politik.

Doch in Berlin herrschte, im Kabinett Manteuffel, die Vorstellung von „der Herstellung eines Neutralitätsgebietes von 70 Mill[ionen]. in der Mitte von Europa“. Der Londoner Geschäftsträger erwartete jedoch, „dieses Neutralitätsgebiet würde Rußland volle Freiheit geben, den Krieg an der Donau u[nd]. etwa in Finnland mit überlegenen Kräften zu führen“.

Damit hatte sich Bunsen sehr weit vorgewagt, und die Kreuzzeitung, wie der Ministerpräsident, sahen sich folgerichtig in der Lage, einen erneuten Angriff gegen Bunsen zu führen, um den Störenfried endlich zu entfernen. Doch diesmal griff die Intrigue weiter aus und auch der Kriegsminister - wie Albert von Pourtalès, Usedom und Robert von der Goltz - wurden miterfaßt. Selbst der Prinz von Preußen verliess darauf Berlin, in der Erkenntnis, seine liberalen Anhänger würden aus der Zentrale der Macht verdrängt. Letztlich hatte wohl das Argument der Gerlach, Stahl und Bismarck, Bunsen habe „es … dahin bringen“ wollen, „einen Krieg der Heiligen Allianz gegen die Westmächte herbeizuführen“ zu dem, für die Konserativen, durchschlagenden Erfolg geführt und den König letztlich dazu bestimmt, sich gegen die Wochenblatt-Partei  und deren liberales Umfeld zu entscheiden. Blanke Kriegsangst war es demnach, die Preußen vor einem eindeutigen Votum für die Westmächte, und damit dem Krieg, bewahrte. Schließlich war die preußische Armee nicht kriegsbereit. Ein entscheidendes Faktum, das auch 2014 auf Bundeswehr, NATO und EU zutrifft.

Dennoch, und letztlich pro forma, fragte Friedrich Wilhelm IV. bei Moritz August von Bethmann Hollweg an, ob dessen Wochenblatt-Partei „gegen oder für diese“ seine „unwiderruflichen Entschlüsse“ stimme. Für die darauf folgende erstmalige außenpolitische Diskussion in der Kammer des Preußischen Landtages bereitete Robert von der Goltz daraufhin eine grundlegende Stellungnahme der liberal-konservativen Parteigänger zu den Eventualitäten eines „englischen Bündnisses“ vor.

Wochenblatt-Partei für englisches Bündnis und Großmachtstatus.

Gegen eine Neutralität Preußens.

Weder ein die „isolierte Neutralität“ respektierendes Preußen, noch ein - mit den Westmächten erfolgloses Österreich – und folglich ein „ringsum cerniertes Preußen“ - schienen Goltz weiterer Beachtung wert. Stattdessen entwickelt er seine Sicht der strategischen Lage Europas: „Die Westmächte haben für sich gegen Rußland die Herrschaft zur See … Hierdurch wird Rußland verhindert, dem Neutralitäts Complex irgendeine bedeutende Hüfe zu leisten. …

Sie haben gegen Oesterreich den Bestand von ganz Italien namentlich Piemont, die Blockade von Triest, so wie den Aufstand in Ungarn und der Lombardei.

Deutschland und dessen Zersplitterung und die geringe Widerstandsfähigkeit am Oberrhein, die Vernichtung des maritimen Exports, die Beschäftigung mehrerer Armeekorps allein zur Besetzung der langen Ostseeküste: Endlich den englischen von Oesterreich nicht unterstützten Kampf am Rhein gegen das mit Belgien verbündete Frankreich. Dänemark wie Holland dürften wahrscheinlich von den Westmächten gleichfalls zum kriegerischen Einschreiten gegen Deutschland genötigt werden“.

Eine „Complentatitive Neutralität“ erschien somit von der Goltz wenig erstrebenswert. Die Westmächte seien zu einem derartigen Vorgehen entschlossen. Preußen drohten, im Falle der Neutralität, härtere Kämpfe, als wenn Berlin am Russland-Krieg teilnähme. Allein die Verbindung mit England würde Preußen sichern. Damit wäre die Rheinlinie geschützt. Bliebe Preußen dagegen isoliert oder „complexiv neutral“, so würde es England und Frankreich gegen sich haben.

Für die Kombination mit Österreich und den Westmächten.

Denn der Weg führe über Österreich, mit dem man sich verständigen könne, und dessen Unterstützung das Verhältnis mit den Westmächten zu kontrollieren erlaube. So sieht Goltz die preußische und die österreichische Armee bereits marschieren, und erwartet, dass den „russischen Armeen im Caukasus, an der Donau und in Finnland wie an der Ostsee“ der Rückhalt entzogen werde.

Damit würde auch den Westmächten, mit ihren Armeen in Verbindung mit den Türken, Carcassen und Schweden, die Tür zum Sieg offenstehen. Allerdings, und dieses Argument war allen preußischen Stellen gemeinsam, bestünde die Gefahr, dass die Westmächte, so Berlin sich in deren Hand begebe, dieses die Zeche allein zahlen ließen.

Englands Kriegsentschluß.

Doch das englische Bündnis fand in London herausragende Unterstützung. Der Prinzgemahl der Queen Victoria, Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, betrieb geradezu eine Nebenregierung zur offiziellen englischen Politik, in dem Bestreben, das Bündnis mit Preußen Wirklichkeit werden zu lassen.

Bunsen hatte, in intensiven Kontakten mit dem Prinzgemahl das preußisch-englische Verhältnis verbessert, mit dem Ziel ein Bündnis mit London zu schließen. Dass ihm im Folgenden vorgeworfen wurde, er habe Gebietsabtretungen auf Kosten Russlands vereinbart, war in der speziellen Konfliktsituation am Berliner Hof begründet. Der Botschafter gab im Nachhinein an, der Prinzgemahl Albert habe ihm vor etwa sechs Monaten, im Herbst 1853, bereits mitgeteilt, was geschehen würde. Dasselbe sei auch gegenüber dem Prinzen von Preußen geschehen. Es ging, bereits zu diesem Zeitpunkt, das heißt parallel zur Kriegserklärung des Osmanischen Reiches an Russland, um Palmerstones Angriffsplan auf Russland.

Vom Kriegsentschluss Englands - bis zur Entwicklung der Diskussion von verschiedenen Operatiosplänen des Prinzen Albert und der Lords Russel, Aberdeen und Palmerstone - gelangt London, Ende des Monats Februar 1854, zu dem lombardisch-walachischen Austausch- und Ausgleichsplan, zwischen Österreich-Sardinien/Piemont und Frankreich.  Der preußische Geschäftsträger wurde erneut in die inner-englische Diskussion eingebunden, indem Lord Clarendon ihm die Grundidee des Operstionsplanes gegen das Zarenreich erläuterte.

Es gab also einen englischen Kriegsentschluss, der aus dem Herbst 1853 datierte. Bunsen war vorsichtig in der Formulierung einer möglichen Beteiligung Preußens er bestätigt: „Preußen welches von dem unmittelbaren Kampfplatz an der Donau entfernt ist, und seine Ostgrenze offen hat, gegen Rußland, das mit einem starken Heere, schlagfertig in Polen steht, kann an dem ersten Kriegs-Operationen nicht teilnehmen, und darf nicht gedrängt werden ...“

Die Nebenregierung Prinz Alberts und das Preußische Bündnis.

Der Briefwechsel des Prinzgemahls Albert mit seinen Verwandten in Deutschland fördert einen regen Gedankenaustausch zu Tage, der nachweist, wie entschieden und zielgerichtet die Londoner Führung auf den Krieg in Russland zusteuerte. Von der Erwartung, dass England allein den Kampf  mit Russland nicht bestehen werde, ausgehend, schien Preußen den geeigneten Bündnispartner darzustellen. „In Preußen“ sei doch „die Nation nichts, der König und sein Ministerium alles“. Aus der Sicht der Coburger allerdings mangelte es in Berlin an einer befähigten Persönlichkeit. In London herrschte die Überzeugung, wenn eine solche aufträte, „morgen einem Bündnis Englands mit Preußen nichts im Wege“ stehen würde.

Entscheidend für die Fortdauer dieser Entschlusslosigkeit Berlins blieb, und sollte in Zukunft bleiben, die Bindung der englischen Regierung an das Parlament und dessen notwendige Zustimmung zu jeglicher Bündnisvereinbarung. Das, was Bismarck gegen Ende der achtziger Jahre, und Bethmann Hollweg zu Beginn des neuen Jahrhunderts, beschäftigen sollte, wurde hier im März 1854 verfestigt und  angesichts der doktrinären Sicht der Preußen, und der eher locker-flexiblen Haltung Englands, unüberbrückbar.

Es wurde von englischer Seite bekräftigt:

„Wenn Preußen unsere Allianz für den gegenwärtigen Konflikt sucht, so werden wir antworten: wir können die Allianz nicht versprechen ohne den Consens des Parlamentes zu haben, und wir sind – im Voraus gewiß, daß das Parlament für eine solche causa belli den Consens nicht geben wird. Anders wäre die Sache, wenn die Kriegsursache große Interessen berührte und Russland oder Frankreich mit in den Kampf hineinzöge. Auch dann könnten wir nichts versprechen ohne Consensus des Parlamentes, aber dieses würde in einem solchen Fall die Zustimmung wohl ertheilen“.

Prinz Albert signalisierte ein besonderes Interesse an einem Bündnis mit Preußen, und gewann damit quasi Position und Bedeutung einer Nebenregierung. Während Coburg eher mit einem Bündnis zwischen London und Paris rechnete, betonte der Prinzgemahl „ein viel directeres Interesse  Preußens an der Frage als England oder Frankreich“.  Diese sei „für Deutschland eine Lebensfrage, während sie für uns ganz anderer Art ist; denn an der ganzen langen Linie der preußischen [und] der oesterreichischen Grenze drückte der russische Coloss, während wir gar keine Berührung mit ihm haben außer die Indignation, welche die unglaublichen Rechtsverletzungen auf allen Teilen des Kontinents hier erregen“.(Hervorh.v.m., B.S.)

Englands Kriegsplan und preußisches Schwanken.

Und im Folgenden entwickelte Prinz Albert den Kriegplan und die Kriegsvorbereitung der Westmächte. Er entwickelte: „Unsere Kriegsoperationen gehen vorwärts und zumal so schnell als die französischen. Die Flotte in der Ostsee wird ausgezeichnet schön, wenn nicht etwas zu schwer für das schwarze Meer. Die 25.000 Mann für Constantinopel [von denen] 10.000 gerade in Malta angekommen, die Artillerie wird durch Frankreich gehen und auf des Kaisers Wunsch durch Paris marschieren!! Wer hätte sich so etwas vor einem Jahr denken können!“

Doch gleichzeitig machten sich sich die Folgen des System Manteuffel in Berlin bemerkbar, eines “de faire semblant“. Die erneute Zurückhaltung Preußens ließ es möglich erscheinen, Preußen werde nun „auf die russische Seite geworfen“. Die Coburger erkannten die Schwäche Berlins in dessen König Friedrich Wilhelm. Herzog Ernst schrieb dem Prinzgemahl, der König liebe es „mit sspitzigen Instrumenten zu spielen, sie aber nicht zu gebrauchen“. Die Kreuzzeitung plädiere für ein Bündnis mit Russland. Es ging um eine Art von Neutralität. In dem künftigen Kampf mit Russland stehe Preußen wohl zwischen den Fronten, so des Coburgers scharfe Beobachtung. Auch der preußische Ministerpräsident stehe zwischen den Fronten und neige wohl einem Bündnis mit Russland zu. Was Maneuffel den Westmächten offeriere, sei jedoch lediglich eine Art von Neutralität. Darin, so Herzog Ernst, entstehe eine große Gefahr für Preußen, das „für den großen Kampf, der sich jetzt vorbereite“, verloren sei. In Süddeutschland werde zumal geäußert, Preußen entwickele sich an der Zeit vorbei. Dieses sei nicht mehr nur ein deutscher sondern ein europäischer Großstaat. Zudem sei die Konfusion in Berlin größer denn je, und es grassiere der Glaube, eine, wie auch immer geartete, Neutralität könne den Krieg mit Russland verhindern. Kurz gesagt, Preußen werde sich zwischen einem kriegsbereiten Österreich und den Westmächten in eine neutrale Sackgasse hineinentwickeln.

Dahinter stecke, so Friedrich von Baden, in Berlin dennoch die Überzeugung, dieses könne unmöglich mit Russland gehen. Andererseits aber werde versucht, die „Wendung gegen dasselbe so lange als möglich [zu] verzögern“, um schließlich „sagen zu können, man sei gezwungen“. Es überrascht, wie entschlossen der Großherzog von Baden „für das entschiedene Vorgehen gegen Rußland, als den glücklicheren Weg“ votiert.

Unsicherheitsfaktor: Das revolvierende Frankreich.

Doch kompliziert die französische Politik zusätzlich die labile Entwicklung zwischen West und Ost. Napoleon III. sucht nämlich einen außenpolitischen Erfolg in Norditalien und droht, Sardinien-Piemont, die italienische Befreiungsbewegung, gegen Österreich loszulassen, um so Wien an die Seite der Westmächte zu zwingen. Ähnlich wie Bethmann Hollweg/Kiderlen 1911 in der zweiten Marokko-Krise mit England zu verfahren suchten (Bethmanns Gespräch mit Lichnowski im Februar).

Im persönlichen Gespräch hatte der Kaiser Herzog Ernst durchaus diese Möglichkeit als naheliegend dargestellt, zumal er das Risiko eines Zurückschlagens der Revolution auf Frankreich in Kauf zu nehmen schien, übergreifend zugunsten seiner Interessen und der europäischen Stellung Frankreichs.

Wie sehr Napoleon jedoch mit dem Feuer spielte, wird deutlich, wenn wir uns das ungeheure Leiden Europas unter den kriegerischen Folgen der Französischen Revolution zwischen 1789 und 1815 vor Augen führen, und  uns zusätzlich vergegenwärtigen, wie sehr, und nahezu Atom-bombengleich die Gefahr der Revolution, noch um die Mitte des Jahrhunderts, im allgemeinen Bewusstsein der Menschen verankert war (vgl. Leopold von Gerlach zu Bismarck).

Die Anti-Ost-Ausrichtung Westeuropas.

Demgegenüber überrascht natürlich auch die Einheit des Kriegswillens der englischen Führungseliten im Gegesatz zu der zerrissenen Haltung Berlins. London war entschlossen, gründlich mit Russland aufzuräumen. Eine Abstinenz Österreichs vom Krieg gegen Russland, so Herzog Ernst, werde – nach der Aussage Napoleons -  zum Krieg in der Lombardei führen. Feinsinnig deutete der französische Kaiser an, er werde „in einem solchen Fall, selbst wenn er wolle, die revolutionäre Partei Italiens ... nicht zurückhalten können“.

Regierung und Hof in London seien einer Haltung in deren Entschlossenheit, den Krieg mit Russland durchzuführen. Die englische Diplomatie sei – zu einem Zeitpunkt zu dem in Berlin noch um moralische Instanzen in der Politik gerungen wurde - nach wie vor bestimmt von einer „Interessen-Politik“. Man solle sich nicht täuschen, es sei ganz und gar nicht das Ziel Londons, „einen betrügerischen Frieden“ herbeizuführen. Beschlossen sei nun, ob mit Paris, Wien oder Berlin, oder nicht, „die letzten Ursachen der Störung des Friedens gründlich zu entfernen und damit die Gefahr der Wiederkehr künftiger Störungen zu beseitigen“. Interessant auch wie Prinz Albert diesen Zusammenhang seinerseits darstellt, und ferner, wie nah diese Argumentation von 1854 jener im Berlin des Jahres 1914 kommt. Der Prinzgemahl der Queen Victoria unterstreicht:

„Die Hauptsache ist, den nun unvermeidlichen Krieg so schnell als möglich zu beenden. Das kann nur geschehen, wenn Europa fest zusammensteht; ein solches Zusammenhalten gibt zugleich die beste Garantie dafür, dass die Frage, um derentwillen der Krieg geführt wird, nicht in andere ausarte, die ihr ursprünglich fremd sind. … Aber gewiss ist, dass wenn Europa jetzt gegen Rußland zusammenhält, die Lösung der Interessen Europas entsprechen muß, während sie die Realisierung der Interessen Rußlands unmöglich macht“.

Was aber nun machen 1854 die Interessen Europas aus? Ist Russland der alte Gegner Europas? Und wie nimmt sich das heute aus? Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha spricht von einem „intimen[r] Haß gegen Rußland“ im deutschen Volk. War es allein die Revolutionsfurcht, die damals die Politikergehirne beherrschte, die, wie Prinz Albert vertritt, Preußen und Österreich an Russland band? Die Pressionspolitik Russlands seit 1815, und die Verhältnissen von 1848, 1850, 1854 drängen sich auf im Vergleich mit 2014. Steht, so die Frage heute, angesichts der jüngsten Ereignisse, eine Entwicklung wie damals, nämlich eine Politik des Abstandnehmens von Petersburg, nach Jahrzehnten wieder an? In den schicksalschwangeren Wochen des März 1854 formuliert dazu der Prinz-Gemahl der Queen Victoria einige Leitgedanken. Er hält fest:

„Die öffentliche Meinung Deutschlands ist seit langem wesentlich anti-russisch. In der deutschen Nation ist ein intimer Haß gegen Rußland. Würde Deutschland in einen Krieg mit Frankreich für  Rußland gerathen, so würde durch das entgegen stehende Nationalgefühl die Vertheidigung Deutschlands wesentlich vielleicht entscheidend paralysiert werden“.

Entwicklungsbremse: die preußisch-österreichische Dichotomie.

Interessant, wie ausgeprägt in Preussen nach wie vor das diffiziele Verhältnis zu Wien im Vordergrund stand. Auf der einen Seite herrschte noch das Gefühl, wie zu Zeiten Friedrich Wilhelm I., nämlich einer  inneren Verpflichtung Berlins für Wien, der alten Kaisermacht, andererseits die Dichotomie zwischen Preußen und Österreich, die mit Friedrich II., und den schlesischen Kriegen, aufgebrochen war. So lag, aus der Sicht des Prinzen Albert, das Haupthindernis für ein preußisch-englisches Bündnis in Berlin. Einmal sei der Einfluss Österreichs auf Preußen ungebrochen, andererseits bekämpften sich „unterhalb des Königs ... zwei Parteien ... deren Siege oder Niederlagen die Schwankungen der preußischen Politik“ hervorbrächten. Zunächst die Kreuzzeitungs-Partei, welche „die russischen Intentionen“ favorisiere. Diese habe einige Zeit lang auch die österreichischen Interessen vertreten.

Der Ministerpräsident stand zwischen dem König und den Parteien, und neigte, während der Krim-Krise, den Vorstellungen der westlich orientierten Wochenblatt-Partei zu. Entscheidend schien es dem Prinzen, die „russische Partei“ am Berliner Hofe zu entmachten. Denn selbst die Wochenbättler, die durchaus anti-österreichisch, aber noch weit mehr anti-russisch seien, tendierten im Grunde nach London und Paris. Jedenfalls würden diese sich einer „Action Oesterreichs gegen Rußland aufrichtig und ohne Hintergedanken anschließen“. So stehe, aus der Sicht des Londoner Hofes, die den deutschen Verhältnissen eigentümliche preußisch-österreichische Rivalität einer zügigen Fortentwicklung der deutschen und europäischen Verhältnisse entgegen. Und die Kreuzzeitungs-Partei, so Prinz Albert, habe schließlich erklärt, „wenn sich Oesterreich gegen

Rußland ausspreche“, würde sie „ein Bündnis mit Rußland dem mit Öst[errei]ch vorziehen“. Der Prinzgemahl erläutert, diese Partei habe „stets nur einen oesterreichischen Schein gehabt“, und würde sich sofort „bei Unglücksfällen der Coalition … im Bunde mit Rußland gegen Oesterreich ... wenden“.

Um die politische Deutungshoheit zwischen Ost und West.

So bekämpften sich die verschiedenen Sichten in Berlin im Schatten eines unentschlossenen Königs. Eine Situation, die vordergründig an den Reichskanzler von 1914, und, unter Umständen, die Bundeskanzlerin von 2014 erinnert. Diese kämpften 1852/54 allerdings derart erbittert, dass die Argumente. wie jenes der Revolution, wie der Vorwurf, eine antiquierte Politik zu vertreten, sich unversöhnlich im Raum stießen. Das ging so weit, dass Bismarcks Plan, das Rheinland - um Kompensationen in Italien zu gewinnen - Frankreich zu überlassen, von der Wochenblatt-Partei als in der sozialen Ideologie der ostelbischen Junker verankert sah. Dahinter verbarg sich der Vorwurf, die Konservativen würden Preußen allein lassen. Dagegen schwelte hinter der Position der Liberal-Konservativen deren tiefes Misstrauen gegenüber dem griechisch-orthodox bestimmten Zarentum. Andererseits, so hieß es, werde Russland nie völlig aus Europa ausscheiden. Für die Konservativen bestand die Gefahr, Preußen werde „bloß die Kohlen für die Westmächte aus dem Feuer holen“, falls sich Berlin in den Krieg mit Petersburg hineinziehen lasse.

Die Wochenblatt-Partei ihrerseits betonte daraufhin die Gunst der geschichtlichen Lage, „einen Schritt vorwärts zu tun auf der Bahn zu preußischer Größe“. Dies wurde erschwert durch die Erwartung, auch Albert von Pourtalès, Frankreich werde sich dem entgegenstellen, und stets auch an einem „englischen Bündnis“ beteiligt sein. Eine Ausdehung Frankreichs, auf dessen traditionellen Bahnen territorialer Expansion, nämlich nach Nordosten, wurde in Berlin akut befürchtet. Dagegen aber würde gerade das preußisch-englische Bündnis wirken. Pourtalès vertrat somit gegenüber Manteuffel die Poition, zunächst mit England zu gehen, und darauf „mit dem uns dann zu Dank verpflichteten Großbritannien nach Westen hin Front zu machen“. Hier blitzt die Idee des „Festlandsdegens“ auf, die in Deutschland später – vor 1914 und nach 1934 - zur Geltung kommen sollte. Es schwang jedoch in den Vorstellungen der Wochenblatt-Partei ein durchaus aggressiver Unterton mit. Nämlich jenes erklärte Ziel, des Aufstieges Preußens zu einer gefestigten Großmachtposition. Eine Projektion, welche dem – nach 1870 - halbhegemonialen bismarckischen Reich ebenfalls innewohnen sollte. So erklärt sich das ständige Ringen der preußischen Vertreter mit den westlichen Verhandlungspartnern um die Anerkennung und Berücksichtigung Berlins als „ständige Großmacht“.

Einerseits von London bedrängt, sich außenpolitisch dem Krieg mit Rußland anzuschließen, andererseits vom österreichischen Kaiser genötigt, die preußische Armee Front nach Osten aufnehmen zu lassen, sah sich der preußische König innenpolitisch gezwungen, sich zwischen der liberal-konservativen Vorstellung des Landgewinns im Osten durch Krieg und jener der konservativen Kreuzeitung, mit Rußland gegen Frankreichs auflebenden Exopansionismus die Rheinlinie zu halten, zu entscheiden. Bunsens große Denkschrift zu den orientalischen Verhältissen hatte Friedrich Wilhelm schlaglichtartig die der Situation innewohnenden Gefahren vor Augen geführt, und zum erschreckten Zurückweichen des Königs vor so viel geschichtsmächtiger Konsequenz geführt. Schließlich waren sich die Liberalen (Bunsen) durchaus der fragilen Grenzen und ökonomischen Schwächen Preußens bewußt, das anders als das, hinter den Karparten und der Donau geschützt stehende Österreich, jederzeit vom kalten Lufthauch der russischen Armee gestreift werden konnte.

Dies gewichtige Argument ließ Bismarck für den „nordischen Dreibund“ votieren, war er aber doch gleichzeitig eher ein Vertreter der von den Liberalen verfolgten kühlen Interessenpolitik, die das konserative Lager seinerseits jedoch aus innerster Überzeugung zurückwies. In Deutschland überlagerten sich so nicht nur die preußische und die österreichische Politik, sondern bestärkte das unverkennbare Zögern Preußens auch den Verdacht der süddeutschen und mitteldeutschen Staaten, es mit Berlin nicht mit einer kommenden Führungsmacht zu tun zu haben. Eine Situation und ein Gedanke, die als von den Eindrücken des Jahres 2014 bekräftigt erscheinen könnten.

Bunsens Freund, Prinz Albert, findet harsche Worte zum Verhalten der Berliner Politik, enttäuscht diese doch dessen Wunsch ntscheidend, Preußen möge künftig mit dem Westen zusammengehen. Mit dem Ausscheren des Königs aus den Plänen der Liberalen, Preußen in die Arme Londons zu werfen, fallen einerseits harte Worte gegen Friedrich Wilhelm IV, andererseits aber zerfasert gleichzeitig  die Wochenblatt-Partei, deren Vertreter entmachtet, nun aus der Machtzentrale ausscheiden.

Im Schwarzen Meer laufen gleichzeitig erste Flottenoperationen, stoßen die Türken nach Norden und werden die Russen aus den Donaufürstentümern herausgedrängt. Das fördert in Berlin postwendend die leichtfertige Haltung, nun sei ja kein Grund mehr für überstürzte Rüstungen. Auch eine Haltung, die uns  1911, 1912 und 1914 bei Wilhelm II. immer wieder, und auch heute, begegnet, welche nun aber, 2014, unverzüglich die Retourkutsche Rußlands förder, militärisch NATO und EU überlegen zu sein. Solch kurzsichtiges Denken, so Pourtalès, fördere jedoch weiteren Macht- und Einflußverlust Berlins in Deutschland. Was folgt, entspricht vollkommen dieser Aussage. Österreich baut gegenüber Rußland eine einflußreiche Drohkulisse auf, und intensiviert damit die Verbindung zu den Westmächten. Geradezu seherisch fällt nun der Kommentar Pourtalès' aus, der zu Bunsens und Jasmunds Forderung zurückkehrt und den „Kampf gegen die Übermacht Rußlands“ fordert. Diese sei auf Dauer zu brechen. Darin nun ganz einig mit London. Dies könne ausschließlich an der Ostsee eintreten. Die Westmächte seien hier ohne Mittel. Österreich werde im Norden ebenfalls nichts nützen. Dieses besetzte seinerseits gleichzeitig die Donaufürstentümer. Da Friedrich Wilhelm zu solchen Entschlüssen nicht fähig war, schlug sich nun Pourtalès in der Folge auf die Seite des Parlaments und votierte er, darin seiner Zeit weit voraus, in Bezug auf künftige vrfassungspolitische Entwicklungen, gegen die Monarchie.

Das englische Bündnis - ein Traum. Scheitern der Usedom/Wedellschen Mission.

Doch dies täuscht nicht darüber hinweg, dass die Wochenblatt Anhänger ihre Wunden leckten und politisch kaum noch Einfluss besaßen. So träumte dann auch Moritz August von Bethmann Hollweg gegenüber Usedom, im Dezember 1855, eher von künftiger Machtbeteiligung, als er wohl eben daran glaubte. Dennoch, eine zweite Mission, oder eine dritte oder vierte - wer weiß das genau - die Usedom Wedelsche, betrieb den Traum eines englischen Bündnisses erneut. Wenngleich deren Schicksal dem der voraufgegangenen entsprechen sollte. Denn erneut trat der Ministerpräsident von Manteuffel als Gegner dieser Art von Königs-Diplomatie auf. Auch traten Diplomaten in preußischen Diensten auf die Seite ihres Ministerpräsidenten, und dennoch zeigte sich erneut das besondere Interesse der Nebenregierung des englischen Hofes an einem solchen Projekt. Dabei fiel besonders ins Gewicht, mit welchen Worten die Queen den Gesandten Usedom begrüßte. Sie betonte, „die Schleifung von Sebastopol, [die] Reduction der Russischen Kriegsmarine im Schwarzen Meer etc. als 'Consequence' der 4 Garantie-Punkte Englands“.

Nicht zuletzt die wiederholten Fehlversuche, in London ein Bündnis zu Stande zu bringen, bedingten nun für Usedom-Wedel eine zusätzliche Hürde. London zeigte sich nämich inzwischen gegenüber preußischen Spezial-Missionen allergisch. Dennoch unterhielt sich Prinz Albert von Sachsen-Courg und Gotha, Gemahl der Queen, äußerst „offen und erfolgreich“ mit den beiden preußischen Gesandten. Das politische London machte letztendlich allerdings Front gegen die Preußen. Es wurde argumentiert, „die bisherige Politik“ Berlins „habe sich praktisch als bloße Schutzwehr Rußlands erwiesen“. Österreich schien auf die Seite der Westmächte gewechselt zu haben, und wurde nunmehr als Gegner Preußens verstanden. Ein Bündnis mit Berlin erschien deshalb nutzlos, da  „Preußen sein Heer gegen Rußland aufstelle, wenn Rußland sich etwa darauf verlassen könne, daß dieses Heer doch niemals gegen Rußland, sondern entstehenden Falls vielleicht ja gar gegen Österreich gebraucht werden würde? In dieser Sicherheit könne Rußland dann seine ganze Kriegsmacht aus Polen herausziehen u[nd] anderweitig verwenden“.

Russland werde durch Preußen entlastet. Das war einer der entscheidenden Eindrücke des Jahres  1855. Usedom reichte diesen Vorwurf postwendend weiter an Manteuffel, der wiederum im Gegenzug die Gesandten in London zu desavouieren suchte. Der Emissär warf dem Ministerpräsidenten vor, mit der „Wirklichkeit der Dinge verstecken zu spielen“. Doch der König stand nun überraschendenderweise entschlossen an der Seite Usedoms und forderte, „die bisherigen Schritte in London bei Lord Clarendon … fortzusetzen“. Die gegenüber Preußen weiterhin gereizte Atmosphäre hatte jedoch Bestand. Das meldete Usedom nach Berlin und erhielt daraufhin die Antwort, der König plane inzwischen „eine mit der Spitze gegen Rußland gerichtete bewaffnete Neutralität“. Preussen wolle weiterhin unabhängig in seinen Entscheidungen bleiben, herrsche doch nach wie vor eine bedeutende Sorge, angesichts der möglicherweise aus dem Westen importierten Revolution. Vor allem schaute Berlin mit Sorge nach Osten: auf Polen. Das nicht zu Unrecht, denn schließlich schien das berechtigt, da eine revolutionäre Bewegung in Polen das „gesamte Staatensystem in den Grundfesten ... erschüttern“ mochte. So stand kurioserweise neben Preußen, England und Frankreich, auch Russland bereit in Polen militärisch zu intervenieren.

Alles lief darauf hinaus, dass Preußen im kommenden Frühjahr blockiert werden würde. Berlin schien inaktiv bis zum casus foederis. Dieses Verhalten gefährdete jedoch zugleich dessen beständige Großmachtstellung. Die Westmächte schätzten Preussen gering, und Österreich suchte die Entfremdung auszunutzen, welche zwischen Berlin, Paris und London eintrat. Gleichzeitig aber nahm der König seine Politik des „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß“ wieder auf. Nun beabsichtigtete die offizielle Politik Berlins auf das österreichischem Bündnis überhaupt zu verzichten, und, „im Sinne Pourtalès und Bunsens[,] den förmlichen Anschluss Preußens an die Westmächte“ zu vollziehen. Insgesamt schien der König Zeit gewinnen zu wollen. Einerseits drängte er mit dem Vertragsentwurf vom 4. Februar 1855 auf den Abschluß eines Bündnisses. Andererseits betont Manteuffel wiederum am 8. Februar, „die  Action Preußens sei von seiner Selbstbestimmung abhängig zu machen“; und schließlich folgte kurz darauf ein Telegramm des Königs, das vor zu großer Eile warnte. Übergreifend betrachtet, gingen die Kriege von 1854 und 1914 von ähnlichen Grundvoraussetzungen aus. Beide Mal ging es darum, „de repousser par la force des armes toutes aggression future de la Russie“.

Dazu war Berlin zu diesem Zeitpunkt, und in dieser politischen Konstellation, 1854 offensichtlich nicht bereit. Doch Lord Clarendon öffnete abschließend Usedom-Wedell gegenüber die Hoffnung, eine Revision dieser Haltung möge die Zukunft bringen, „that Prußia may think consistent with her honor and her interests“.

Schluß.

Preußen, England, Rußland.

England und Frankreich führten aus eigenem Entschluss den Krieg gegen Russland auf der Krim. Die russische Armee wurde auf dem Festland nach Norden zurückgeworfen, und sah sich in der Flanke und auf eigenem Territorium, vor Sewastopol gestellt.

Die Erwartungen der konserativen Kreuzzeitungsparteie wurden enttäuscht. Es kam in dem Unheilsjahr 1854 weder zu einem preußisch-russischen Bündnis noch zu einem allgmeinen europäischen Krieg. In Wien hatte die Kriegspartei gesiegt - in Preußen jene der Tauben. Anders als es bisher in der Forschung gesehen wurde, wird hier die Position vertreten, aus den Äußerungen des preußischen Botschafters in London, Bunsen, seien die radikalen tatsächlichen Vorstellungen ausgesprochen, zumindest jene des liberal-konserativen Teils der preußischen politischen Elite. Doch einerseits hielten politisch-theologische und juristische Vorstellungen der Vergangenheit den Gedanken an ein preußisch-englisches Bündnis wach. Vergangenheit war zu diesem Zeitpunkt bereits das konservative Bild eines preußisch-österreichischen Blocks, um den herum sich ein neues Europa bilden sollte.

Verschiedene Blickrichtungen, die eine nach Westen - die andere nach Osten, bestimmten in Berlin das politische Denken der Zeit. Die preußischen Konservativen verstanden das englische Bündnis in Kontinuität lediglich als Gegengewicht zu Frankreich. Keinesfalls aber als Alternative für das russische. Letzlich aus moralischem Getändel heraus, versagte sich die Kreuzzeitung bereits zu diesem Zeitpunkt einem Bündnis, das sämtliche Komplikationen der kommenenden einhundert Jahre aufgelöst haben würde. Der westlich orientierte liberale Geist in Preußen konnte sich gegen die konservative Tradition nicht durchsetzen. Das Aufflammen dieser Bewegung nach 1850 erstarb mit der Entlassung der Parteigänger der Wochenblatt- Partei aus den Regierungsfunktionen, im Zuge der Diskussion um die Thesen Bunsens um ein preußisch-englisch-französisches Bündnis gegen Russland 1853-54. Die Liberal-Konservativen warnten vor einer möglichen Herrschaft Russlands bis zum Rhein. Die Verhandlungen mit London scheiterten, da die Hände aus vielerei Gründen gebunden waren.

Wie der deutschen Administration von 1914 um Theobald von Bethmann Hollweg beabsichtigte die Wochenblatt-Partei Bündnisse mit westlichen europäischen Staaten, wie Frankreich und England, zu fördern, um so für Berlin die außenpolitische Handlungsfreiheit zurückzugewinnen. Russland dagegen war ihr innenpolitisch-verfassungsrechtlich ein Greuel, ein Hort der Reaktion. England erschien demgegenüber als das Zentrum der Freiheit.  Die Bindung an den Westen, die in Deutschland sich erst mit Adenauer durchsetzen sollte, quasi die Position der NATO und EU von heute, griff noch nicht. Die Grundprinzipien des Handelns aber, waren mit Bunsens und Riezlers Denkschriften von 1854 und 1914 bereits festgelegt.

In Preußen ging es darum, im Zuge einer Zurückdrängens des russischen Übergewichts, und dies in Verbindung mit England, die preußische Außenpolitik zu aktivieren, und dessen Machtstellung neu zu bestimmen, um das alte Prestige wieder zu gewinnen. Preußen, als Vorreiter des Kampfes gegen Russland, konnte damit zugleich zur Führungsmacht Deutschlands werden. Nicht zu vernachlässigen war gleichzeitig der betont anti österreichische Akzent, den sowohl Bismarck bei den Konservativen, als auch die deutschen Liberalen vertraten. So auch das Wochenblatt aus dem Januar 1852, welches das preußische Heer England in einem kontinentalen Krieg zur Verfügung stellen wollte. Doch der Kulminationspunkt der Entwicklung des Wochenblattes war Ende des Jahres 1853 überschritten, als Graf Albert von Pourtalès im Auswärtigen Amt die orientalischen Angelegenheiten bearbeitete. Zwischen den Fronten stand der Ministerpräsident von Manteuffel, der zunehmend mehr der pro-russischen Position der Kreuzzeitung zuneigte. Gegen Ende des Jahres 1853 wechselte Preußen immer wieder die Fronten. Als im März 1854, mit der entscheidenden Audiemz vor dem König, die Wochenblatt-Vertreter die Erklärung abgaben, eine Sondermission nach London nur übernehmen zu können, wenn Friedrich Wilhelm IV. ein  förmliches Bündnis mit den Westmächten schlösse, und, gegebenenfalls auch zum Krieg gegen Russland bereit sei, katapultierte Friedrich Wilhelm die Liberalen „Bethmänner“ aus seiner Umgebung. Letztlich aus Angst vor der Sprengkraft des Revolutionsgedankens in der damaligen europäischen, politschen Szene.

Weiter vertrat die Denkschrift Bunsens, die ganz auf Konfrontation ging, und die Wiederherstellung Polens vorsah, das Kriegsbild vom kurzen Krieg wie 1914 und stand im Duktus der Verhandlungen des August/September 1914 und Dezember 1940. Die Coburgischen Ernestiner sollten das Königreich Sachsen erhalten, und Russland zerstückelt werden. Ferner die Ostseeprovinzen, unter Einschluss Petersburgs an Preußen und Schweden fallen. Berlin sollte danach von Österreich Schlesien und Mähren erhalten, während Österreich die Lombardei gegen die Donaufürstentümer tauschen, und Schweden die Aalandineln und Finnland in Besitz nehmen sollte. Damit war bereits 1854 der Kerngedanke der späteren deutschen Expansion im Osten ausgesprochen, und stellt sich akut die Frage nach den Vorstellugen von NATO und EU heute. Kurz gesagt: welces Kriegsbild hat die NATO?

Mit der Entmachtung der Wochenblatt-Minister war auch die Phase der Konservativ-Liberalen in Berlin vorerst zu Ende. Es hieß, Bunsen sei plump aufgetreten, habe den König vor den Kopf gestoßen und Friedrich Wilhelm wolle nun Bismarck zum Ministerpräsidenten machen. Auch der Prinz von Preußen wurde isoliert, und wandte sich verärgert ab. Dessen anti-russischen Tendenzen passten zur Wochenblattbewegung und nicht zur Politik des preußischen Königs. Es triumphierten die Konservativen auch im Abgeordnetenhaus. Erst mit dem Ministerium der neuen Ära von 1858 sollten die liberalen Kräfte um Moritz August von Bethmann Hollweg erneut zur Wirkung kommen. Hier findet sich die Grundposition, die der Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg ab 1909 wieder aufnehmen sollte. Dieser übernahm die Forderungen fast aller Liberalen um die Mitte des 19. Jahrhunderts, nämlich die Feindschaft gegen Russland, und nutzte diese als Brücke zur Sozialdemokratie der Vorweltkriegsphase. Es war bereits 1854 Allgemeinbesitz, Russland besitze ein zu schwaches Bürgertum. Das despotische System werde durch liberale Reformen fallen. Ein breiter Russehaß solle die deutsche Bevölkerung beherrschen, so der Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha.

1914.

Damals wie heute geht es um die Rolle Russlands in Europa. Navalistische Mächte stehen wie 1854 gegen die Festlandsmacht. Damals sollten die preußisch-englischen Gemeinsamkeiten betont werden. Preußen stand vor der Entscheidung, wohin es kulturell-weltanschaulich gehören wollte. Ähnliches gilt heute für Deutschland, oder gar die EU. Bethmann Hollweg verfolgte dieses Ziel im Ersten Weltkrieg. Von Konstantin Frantz, über Felix Fürst Schwarzenberg bis zu Naumann, Rathenau und Theobald von Bethmann Hollweg führte die Idee, Europa unter preußisch-deutscher Führung zusammenzufassen. Die NATO/EU heute greift nach Kiew – nicht Rußland. Ähnlich 1914, als es um nicht um russisch besiedelte Territorien ging. Auch den Haß der Polen gegen die Russen, der am Leben erhalten werden sollte. Wie 1854 die Koalition gegen Rußland, so bildet die NATO heute keinen geschlossenen Block mehr. 1854 ging es um Annexionen an der Ostsee, Polen und Moldavien. 1914 ähnlich. Die Idee des „Volk ohne Raum“ war geboren. Siedlungsland für verdiente Unteroffiziere sollte gewonnen werden. Oder, wie Ludendorff 1915 an Moltke schrieb, die Armee müsse befriedigt werden.

Die preußischen Konservativen standen ganz im Bann der Befreiungsbewegung von 1813. Sie erwarteten den Krieg mit Frankreich, und sahen in einem Bündnis mit England lediglich dessen Funktion, korrespondierend mir der Verteidigung der Rheinlinie. Einerseits fürchtete das konservative Preußen Frankreich als den Hort der Revolution. Die Revolution war eine gefährliche Waffe gegen die Monarchien. Es wurde erwartet: ein preußisch-englisches Bündnis könne andererseits Russland in die Isolierung treiben, und eine französisch-russische Annäherung heraufbeschwören. Dieses essentielle Problem sollte sich Bismarck, auf anderer Ebene, nach 1877 stellen. Auf der Höhe der Berliner Krise mischten sich Hoffnungen, Gefährdungen, wie die Konstanten der Rechnung, analog zu 1914 und heute.

Doch der Weg der Modernisierung Preußens war steinig und lang. Aus der wirtschaftlichen Rezession zu Anfang des 19. Jahrhunderts ging Berlin gestärkt hervor. Der  Niveauunterschied zu Westeuropa, der über 300 Jahre angedauert hatte, wurde überwunden. Zwischen 1820 und 1850 brachte die Wachstumsrate in Landwirtschaft, Verkehrswesen und Industrie linear 1,2%. Im Deutschen Bund errang Preußen damit wirtschaftlich die Suprematie. Der militärisch-politische Sieg von 1866 über Österreich war industriell, wirtschafts- und finanzpolitisch (DDD-Banken) vorgezeichnet. Nur zögernd folgte die staatliche Verwaltung dieser neuen Entwicklung. Gleichwohl zeichnete sich die Regierung Manteuffel durch die, wenngleich zögernde, Überwindung der merkantilistischen Staatspraxis aus.

Bismarcks Außenpolitik war gekennzeichnet durch „Vorurteilsfreiheit... und Realismus“. Ihm oblag es, die Umorientierung der preußischen Außenpolitik, nach dem Frieden von Paris 1856, zu vollziehen. Frankreich war inzwischen zur ersten Macht in Europa aufgestiegen, und sollte der künftige Bündnispartner Preußens werden. Bismarck verfolgte das Ziel, den deutschen Mittelstaaten die Rheinbund-Option abzuschneiden. So begann etwas völlig Neues, was mit dem Krimkrieg, dem wohl letzten Kabinettskrieg alten Stils, und dem Feldzug von 1859 in Norditalien, begonnen hatte.

Dass die überkommene Pentarchie der europäischen Mächte Vergangenheit war, war allseits anerkannt. Die Stringenz des engshen Anriffsplan auf Russland, das Diktum Bunsens vom „europäischen Generalkrieg“ von Finnland bis zum Kaukasus wurde abgelehnt. Wie sieht das Kriegsbild der NATO/EU von heute aus? Ist der Plan der NATO-Erweiterung ausgeträumt, weil die Mitgliedsstaaten ihre Armeen abgerüstet haben, und auf kurze Sicht ein Zusammenwirken mit den USA problematisch erscheint. Trifft doch Friedrich Wilhelms Besorgnis zu, den Krieg mit Russland eventuell allein ausfechten zu müssen. Damals, 1854, betrogen von Frankreich und England, heute den USA.

2014.

Was bedeutet nun 1854, die Krimkrieg-Phase, und 1914 - der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die dazugehörigen Kriegsziele der Mächte - für uns heute – nämlich 2015? Immer wieder, in den letzten 30 Jahren, konnte das Gefühl aufkommen, in einer Vorkriegszeit zu leben. In der Geschichte – wie 1815, 1918/19, 1945 - wiederholt sich derselbe Vorgang. Das internationale System formiert sich neu. Innerhalb eines Jahrzehnts wird darüber entschieden, welche der siegreichen Mächte des zu Ende gegangen Konfliktes noch an der Spitze stehen wird.

Absteigende Mächte neigen dazu, mit militärischen Mitteln den Verfall zu stoppen. Das trifft auf das Deutsche Reich nach 1871/1904/05, das britische Empire um 1930 und erneut 1956, wie die Sowjetunion der Afghanistan-Phase zu. In solchen Phasen entwickelt sich eine besondere Sensibilität der Führungseliten für die Eventualitäten, die aus derartigen Situationen entspringen können. In den achtziger Jahren, im Angesicht möglicher künftiger konventioneller Kriege in Europa, wurde das historische Datenmaterial unter dem Gesichtspunkt untersucht, wie es zu den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts gekommen war. Nicht zuletzt die politologischen Ansätze der frühen siebziger Jahre führten dazu, über die Gefahren nachzudenken, die aus einer Umklammerung der Sowjetunion dieser Jahre durch USA, China und NATO entstehen könnten. Und dies unter der, von verschiedenen Seiten, im Verlauf der achtziger Jahre erneut  (Paul M. Kennedy) dargestellten historisch-politischen Fragestellung vom „Aufstieg und Verfall der Kulturen“ (G.P.Gooch).

Weiter ging es, mit einem weiteren analytischen Ansatz, um die möglicherweise erfolgreiche Blockade militärischer Auseinandersetzungen zwischen Großstaaten; und dies hinsichtich des Modells, zum Beispiel Henry Kissingers, über die vermeintlich vollendete Restitution der Welt nach 1815. Deren Klammerfunktion jedoch, durch die Repression Russlands, bedingt durch den Krim-Krieg, zu eben deren Ende führte. Zum Ausschluss militärischer Gewalt aus dem internationalen System kam es jedoch nicht. Doch, so erwartete die Wissenschaft, der Ausschluss von Kriegen zwischen Großstaaten könne zum gewaltfreien Wandel hinsichtlich Einflüssen, Ressourcen- verteilung etc. führen. Es galt die Annahme zu widerlegen, nach einem durchgekämpften Konflikt würde die Machtverteilung eindeutiger als zuvor ausfallen. Ein friedlicher Prozeß werde bei weitem nicht zu so klare Ergebnisse zeitigen. Im Falle des Deutschen Reiches hätte das bedeuten können, dass es nicht zu dessen Gründung gekommen wäre. Auch der Friede von Frankfurt, 1871, führte zu keinem eindeutigen Ergebnis. Erreichte doch Deutschland lediglich eine halbhegenoniale Position, und verschoben sich, bevor der nächste Konflikt zwischen den Mächten sich abzeichnete, die Paritäten zwischen den europäischen Mächten, entsprechend deren industriellen, militärischen und diplomatisch-politischen Schwerpunkten.

So auch nach 1945. Kriege unter Großstaaten führen zumeist zu eindeutigen Hierarchien. Diese haben, nach allgemeiner Meinung, auch längeren Bestand. Dass jedoch diese Kräfteverteilung durchaus zunehmend labiler wird, kann die Führungsmacht an Veränderungen auf ökonomischem,  industriellem und technologischem Gebiet erkennen. Der „index of concentration“ mag über die volle Breite der vielfältigen Sektoren, diese Antwort im Verlauf der 80iger Jahre, auch bezogen auf die USA, und, vor allem die UdSSR, gegeben haben. Der Abgleich der Fähigkeiten der Leitmacht und der konkurrierenden Großmächte kann zu der Erkenntnis führen, daß – trotz Handel und Wandel - erste Differenzen auftreten. Während das Interesse der USA, während der 80iger Jahre, gegenüber der UdSSR, darauf  hinauslief, zu erkennen, in wieweit sich die Satrapenstaaten in Comecon und Warschauer Pakt, aus deren Machtbereich zu lösen versuchten; ebenso aber unterlagen und unterliegen seit 1991 auch die USA ähnlichen divergierenden Tendenzen in deren Bündnissystem (NATO/EU).

Gleichwohl, das Ergebnis für den Fall UdSSR ergab: es mochten sich die Prozesse eines engeren Zusammenschlusses im Bündnis, wie auch eben die Tendenz durchsetzen, größere Selbständigleit von der Hegemonialmacht zu erreichen. Zudem werde sich, bei nachlassender Kontrolle über die Satrapenmächte, diese zunehmend schwächer und fahriger gestalten. Diese Erwartungen wurden gespiegelt durch Ereignisse, die im westlichen Glacis des Machtbereiches der Sowjetunion eintraten. 1953, -56 und -68 griff Moskau in diesen Prozess, nachlassender Gravitation, regulierend ein. Gemäß den o.e. Erwartungen nach siegreich beendete Kriegen, entsprach diese zunehmende Abschleifung der Machtposition Moskaus unter Andropow/Gromyko, jener bei Bethmann Hollweg/Moltke, Hitler/Ribbentrop und Stalin/ Molotow. Stets war zunehmende Führungsschwäche dafür verantwortlich, wenn der jeweilige Großstaat auf einen Moment der Schwäche zusteuerte. Die staatstragenden Kräfte finden in derartigen Konstellationen, das ist das Ergebnis der Analyse der letzten 150 Jahre, keine angemessene Antwort auf die Veränderung der allgemein politischen Verhältnisse (auch der russische Zar Nikolaus I).

Einseitige Reaktionen belegen die unangemessene Reaktion der (oft) einseitig militärisch geprägten Führungseliten. Krampfartig wird nach neuen Bündniskontakten gesucht, werden die militärischen Ressurcen verstärkt, was einzig und ledigich einen vordergründigen Effekt von Selbstbestätigung erzielt. Damit sind diese Großstaaten im Begriff abzusteigen, und verfügen, im Vergleich mit den Verhältnissen der übrigen Staaten, über einen überzogen verstärkten Militärsektor. Gleichzeitig erreicht dieses kriselnde Machtgebilde einen geringen Erfolg als jene Staaten, die mit geringeren Machtmitteln operieren.

Zusätzlich erliegen solche Mächte der Versuchung, militärisch überzureagieren, und sich vermehrt in Streitigkeiten verwickeln zu lassen. Eine der wesentlichen Wirkungen bildet die Eskalation des Machteinsatzes. Führungsmächte im besonderen sind, im Moment des Abgleitens von vorheriger Macht und Größe, also geneigt, kurz-oder mittelfristig, weniger flexibel und anpassungsfähig zu reagieren. Die Effekte zunehmender Militarisierung in Staatsführung und Gesellschaft, vor allem eine kämpferische Auffassung von allgemeiner Politik, bewirken in wachsendem Masse Misserfolge, und damit verbunden, ein eskalierendes Krisenmanagement; führen zu wachsender Kriegsbereitschaft. Dies mag in unseren neusten Zeiten für die USA, wie für Russland, aber auch die EU, zutreffen. Im Weltmaßstab jedenfalls steht die Nordhalbkugel nicht mehr an der Spitze der Etwicklung. Das hat der rasante Aufstieg Chinas angekündigt (linerarer stabiler Zuwachs des Bruttosozialproduktes, P.M.Kennedy, 1986). Das Deutsche Reich von 1914 jedenfalls beschritt diesen Weg.

Das in der jüngeren Vergangenheit international immer mehr um sich greifende Mittel der Militarisierung hat dazu geführt, dass heutige Gesellschaften zunehmend gefährdeter, verlustbedrohter und kriegsgefährdeter erscheinen. Die Sicherheitsrisiken, die sich mittlerweile auf der Entscheidungsebene der Großstaaten und Bündnisse ergeben, mögen auch auf Fehlrechnungen der jeweils dominanten Sicherheitseliten zurückgehen, und noch verschärfend in einseitig militärisch charakterisierte interationale Machtauseinandersetzungen hineinwirken. Je überzeugender die militärischen Facheliten, auch aufgrund technologischer Fortentwicklung, voraussagen können, welche Mächte sich auf welcher Seite aufstellen werden, welche Machtmittel insgesamt, und wo, vereinigt sein können, um so überzeugender können diese Eliten den Ausgang eines solchen Krieges vorhersagen (1854 Palmerstone, Clarendon, 1914 Moltke/Jagow, 1940 Blomberg, v.Brauchitsch).

Aber warum soll gekämpft werden? Die schwächere Seite will nicht, wie stärkere muss nicht kämpfen. Der Kompromiss, Schachmatt oder Kapitulation. Der Weg zum Krieg, in den Erwägungen der Führungseliten absteigender Mächte, kann sich in folgenden Schritten vollziehen:

     

  1.    Bewußtwerden nachlassender industrieller Fähigkeiten,(1854, 1914, 1991(2014),
  2.    Erfahrung des Nachlassens der Kräfte in Bezug auf die eigene Einflussphäre (1991ff.),
  3.  

3.   Verstärken von Bündnisverpflichtungen (1854, 1912/13, 2014),

4.   Verstärken der militärischen Rüstung (1851/54, 1913/14, 2010ff.),

5.   Zunehmende Verwicklung in militärische Auseinandersetzungen (1848ff., 1991ff.),

7.   Fortsetzung dieser Entwicklung, mit Zielrichtung auf den allgemeinen Krieg (1852ff.

1911/14, 2013).

Wie 1980 könnte die Wissenschaft heute die Antwort auf die Frage geben, wie lange solche, mehr und mehr sich autistisch verhaltende Mächte und Machtblöcke, im Bewusstsein des Abschwunges ihrer Entwicklung, zögern werden, mehr und mehr in Bedrängnis gebracht, und durch Aufrüstung unter Druck gesetzt, zum Mittel des Krieges zu greifen. Und heute handelt es sich um Russland u n d  die USA.

Dazu können die sorgfältige Analyse der wirtschaftlichen und industriellen, wie der damit zusammenhängenden, Kriterien verhelfen. Auch für die Jahre vor 1870 fördert das ein Spektrum der „jungen Mächte“ zutage, die geeignet schienen die Seniorstaaten zu verdrängen. In den modernen Kriegen mehr als in den vorausgegangenen Jahrhunderten, zeigt der Umfang des militärisch-finanziellen Engagements des Siegers rund um die Erde, den Grad der großmächtigen Potenz dieser Macht  im Aufstieg auf den Gipfel oder deren Abstieg. In unseren Tagen treten in diesem Zusammenhang heute die USA verstärkt in den Fokus des Interesses. Ein Ermüdungsprozess der bisherigen Supermacht ist unverkennbar zwischen Korea, Berlin, Kuba, Vietnam, Persien einerseits und Kuwait, Irak, Afghanistan andererseits. Heute sind hinzugetreten: Nordafrika und Ägypten bis Syrien und Krim.

Mittlerweile sind die zeitgeschichtlichen Entwicklungen über die Grundfragen der 80iger Jahre hinaus fortgeschritten. Dazu diente die Analyse von Militärausgaben und quantitativer Stärke der Armeen. Das berühmte „Panzerzählen“ der Friedensforschungsinstitute. Eine mehr oder minder arg überschätzte Einrichtung, ging es doch auf diesen ertragreichen Feldern nicht so sehr um „Friedens-“, als vielmehr Kriegsforschung. Leitvektoren der Analyse bildeten unter anderem, für die Zeit zwischen 1816 und 1970/80, Eisen- und Stahlproduktion sowie der industrielle Energieverbrauch. Die „jungen Mächte“ waren ein zentrales Ergebnis dieser Analysen.  Ob dies nun für Preußen, Frankreich und Sardinien-Piemont um 1850 zutrifft oder für Deutschland und Japan in den 30iger Jahren des 20. Jahrhunderts.

Es ging und geht um die Verdrängung der Senior Staaten. Die Parameter des Umfanges der getätigten Initiativen, Investitionen und des räumlichen Engagements, nach erfolgreichen Kriegen, sollte zeigen, ob der betreffende Sieger-Großstaat sich noch im Zustand des Aufstieges oder bereits des Niederganges befand (befindet). Es ging 1850/1914 (zaristisches Rußland), und geht heute, um die Bestimmung des Momentes, in dem 1991/2014 ein Nachlassen der Befähigung einer Haupt- und Vormächte (UdSSR 1978-82/ Rußland 2014) gegeben ist (war), maßgebenden Einfluss auszuüben, wenn dieser

a) in eine zunehmende Zahl militärischer Auseinandersetzungen verwickelt werde. Ein bloßer clash wird wohl kaum dazu führen, bis an den Rand eines Krieges zu gehen. Allerdings könnte dieser Punkt überschritten werden, wenn eine Mobilmachung, ein Aufmarsch militärischer Kräfte, Gewaltanwendung oder Kampfhandlungen einträten (Krim, Donez  2014/15). Für die Beherrschbarkeit solcher Eskalationen mögen für Rußland 1953, 1956, 1967, 1968 sprechen.

b) derartige militarisierte Streitigkeiten finden sich öfter innerhalb, oder an den Rändern von Einflusszonen bündnispolitischer Nachkriegsbildungen, als außerhalb derselben.

c) die Ergebnisse derartiger Entwicklungen werden sich von Mal zu Mal ernüchternder gestalten (für die USA: 1952/53 Korea, 1956 Suez, 1958 Berlin, 1962 Kuba, 1978 Persien, 1963-1975 Vietnam; heute: Kuwait, Irak, Afghanistan, Syrien/Isis-Mossul).

Wirklich angezeigt ist, zu erkennen, wie brisant sich die Lage inzwischen gestaltet; so muss die Politik der USA daraufhin untersucht werden, ob, infolge vermehrter Rüstung, das innenpolitische Prestige absinkt, dementsprechend gemäßigte Lösungen an Attraktivität verlieren, und, einer zunehmenden Militarisierung der Außenpolitik Raum gegeben wird. Empirisch gefragt, bleibt zu klären, ob zunehmende Bündnisverpflichtungen verstärkte militärische Mobilmachungen zur Folge haben.

Vor dem Hintergrund dieser, nunmehr ebenfalls labilen, Machtlage der USA, und der aus der inferioren Machtposition Russlands hervorgehenden Offensive mit begrenztem Ziel im Donezbecken, ergeben sich neue Gefährdungspotentiale, denn die Konfliktpartner erscheinen beide angeschlagen und zu sämtlichen, hier aufgezeigten, Fehlreaktionen fähig. Ob es nun sinnfällig wäre, ähnlich wie in den Jahren 1853-55 zwischen England, Österreich, Preußen und Frankreich mit Russland durchgeführt, in extenso und in Kontinuität zu verhandeln, führt wohl damals wie heute nicht zu dem Ergebnis, den beiderseits noch verführerischen kriegerischen Konflikt zu vermeiden.

Zum dem Ziel, dem Urteil der Geschichte zu gelangen, mögen folgende Fragen führen:

–        Wie regelmäßig beginnt sich eine Nachkriegshierarchie aufzulösen?

–        Wie schnell, wie weitgehend geschieht das?

–        Erkennen nationale Sicherheits-Eliten die sich verändernden Macht- und Einflusskonfigurationen; und wie frühzeitig vollzieht sich das?

–        Erkennen diese exakt, und in welchem Ausmaß, die Realität oder über- oder

unterschätzen sie diese?

–        Antworten diese, wie hypnotisiert, mit der Verstärkung ihrer Bündnis- und Militärverpflichtungen oder konzentrieren sich diese auf die Verstärkung der Armee – oder Beides?

Falls die Neigung absinkender Mächte zu militarisierter und weniger einfallsreicher Außenpolitik, geringere Erfolgsraten in Auseinandersetzungen hervorbringt, wird der Selbstbestätigung-Prozess verstärkt und schließlich: lassen derartige Erfahrungen solche Mächte kriegsbereiter werden, als die historische Erfahrung uns vermuten ließe? Diese Annahme war bisher keineswegs bestätigt. Es ging letztlich darum zu untersuchen, die Bedeutung der Militarisierung von Gesellschaften im Zusammenhang mit deren machtpolitischem Absinken. Weiterhin steht die Frage nach dem Prozess im Raum, durch welchen die Nationen fortfahren, das Wüten des Krieges denjenigen aufzuladen, die von ihnen Frieden erwarten.

Ursache und Anlass für diese Überlegungen war die Beobachtung, dass zwischen 1960 und 1980, sowohl die UdSSR, als auch die USA, sich mit einem äußerst zwiespältigen Absinken ihrer Befähigung konfrontiert sahen, internationale Ereignisse zu beeinflussten und zu kontrollieren. Eine betonte Zunahme der Militarisierung der Außenpolitiken, und die stetige Zunahme der Militäraufwendungen waren festzustellen. Es bildete das Erkenntnisleitende Interesse derartiger Studien in den Jahren 1983/84 in den USA, ob die Sorge vor den Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Menschheit im Vordergrund stand, oder eher das Abklopfen der Machtbasis der UdSSR auf  mögliche kriegerische Lösungen in Zentraleuropa. Diese Frage wird heute, im Angesicht von Krim- und Donezkrise neu gestellt. Dass es um eine mögliche Konfrontation zwischen den beiden Systemen ging und dass der Gedanke an die Vergleichsfälle 1852-54 und 1914 „die kriegerische Frivolität alternder Reiche“ in jenen Jahren leitend waren, überrascht den Beobachter aus Deutschland weder damals noch heute.

Ist doch die Erkenntnis des Jahres 1989 keinesfalls eine, das bündnispolitische Vertrauen stärkende. Es ist inzwischen Europa aufgebrochen, selbst Weltmacht zu werden, und haben sich die USA entschieden, dies zu verhindern. Ein Riß geht dementsprechend durch die NATO. Provoziert letztendlich durch eine abgesetzte US-Außenpolitik gegenüber Rest-Rußland, das als Machtfaktor von bemerkenswerter Wertigkeit von Washington nicht mehr anerkannt wird. Entscheidemd für alles was folgt mag sein, dass die USA – ähnlich wie England im Herbst 1853 – einseitig entschieden hat, die Machtpräsenz Rußlands endgültig entscheidend zu mindern. Und das in Fortsetzung der Schläge, die diese 1991ff. erlitten hat. Die Gegenbewegungen Russlands sind in dieser Rechnung zu vernachlässigen. Gleichzeitig erfüllt diese besondere Aggressivität in der US-Außenpolitik eine weitere Bedingung für den heißen Konflikt, nämlich wird westlicherseits auf die EU-Politik der Ausdehnung nach Osten seit 1991 „draufgesattelt“. Damit aber zieht die EU – veranlasst durch US-Amerikanisches Vorgehen, jene Schläge (lokalisierter konventioneller Krieg in Europa) auf sich, die sich dadurch ergeben, dass Russland lediglich die EU, nicht aber die USA in der Ukraine treffen kann. Die USA möglicherweise dem expansionistischen Ziel England/Preußens 1854 und Deutschlands 1914 folgen. Mögen also die Generäle in Moskau, auf die Frage- „was können wir gegen die USA tun(?)“- dasselbe geantwortet haben, wie Moltke in der Krisenkonferenz vom Juni 1909: „wir können (lediglich) einen Krieg mit der Ukraine vom Zaun brechen – mehr aber nicht“. Alles Reden und Unterhandeln, also alle Politologie in der Geschichte in being (Steinmeier) wird, so traurig das ist,  nicht weiterhelfen, wenn der Krieg im Vorhinein beschlossen ist, wie von England im Herbst 1853 auf Schloß Windsor, und in Deutschland vor 1914.

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Gravatar: dr. bernd f. schulte

2015: Lokalisierter konventioneller Krieg in Europa. US- und russische Strategien begegnen sich.

Die USA gaben 1980 eine Studie in Auftrag, zu prüfen, wie lange eine Groß- und Supermacht Pressionen aushält, bevor diese zur militärischen Antwort greift. Gemeint war zweifelsohne die UdSSR, die im Nachgang zu Afghanistan, und dem Rüstungswettlauf zu Wasser (Admiral Gorschkow) und zu Lande (qualitativer Rüstungssprung von der Mechanik zur Elektronik), finanziell 1980 bankrott war. Auf die Landmacht Rußland zurückfielen, Pereststroika und deutsche Einheit. Selbstverständlich plante Moskau, in absehbarer Frist wieder vorzugehen. Rohstoffreichtum und Teil-Kapitalismus führten zu vorübergehender Blüte neuer Kräfte - im Verbund mit den überkommenen Eliten.

Getragen von falschem Selbstverständnis, rüstete Europa ab, und bereitete sich auf den ökonomischen Sprung auf Weltmachtstandard vor; verfeindete sich jedoch die USA. Diese kämpften weitgehend allein um deren Supermachtstatus der Vergangenheit und trafen im Gegenzug Europa mit der Währungswaffe.

Nun kommt das 1980 erörterte Konzept zur Ausführung, an NATO und EU vorbei, einen
l o k a l i s i e r t e n k o n v e n t i o n e l l e n K r i e g
(in Europa) zu inszenieren, der die EU in direkte Mitleidenschaft zieht, kommerzielle Erfolge Europas (wirtschaftliche Konkurrenz im Weltmaßstab) nivelliert, um, verbunden mit der Ölschwemme, die USA zu alter Supermachtstärke zu führen.

Das erbringt die Analyse der Kriegsfälle 1852/54 (Krimkrieg-Phase), wie der Vorgeschichte des Kriegsausbruchs von 1914.

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