Auf den Spuren von Wilhelm Dilthey

Wilhelm Dilthey gehört zu den bedeutendsten Philosophen des 19. Jahrhunderts. Leider ist er dem breiten Publikum nicht sonderlich bekannt.

Veröffentlicht:
von

Wilhelm Dilthey gehört zu den bedeutendsten Philosophen des 19. Jahrhunderts. Leider ist er dem breiten Publikum nicht sonderlich bekannt, nicht so bekannt wie sein Zeitgenosse Friedrich Nietzsche, obgleich sein Beitrag zur Geistesgeschichte immens ist.

Dilthey gilt als einer der bedeutendsten Hermeneutiker (Hermeneutik = Kunst des Verstehens) und als Begründer der Geisteswissenschaften, genauer: der geisteswissenschaftlichen Methodologie.

Er wurde am 19. 11. 1833 in Biebrich, heute ein Stadtteil von Wiesbaden (Hessen), geboren. In seinem Geburtshaus befindet sich heute eine Gaststätte, zu der ein Biergarten gehört. An der Mauer des Biergartens ist ein Portrait von Dilthey zu sehen. Nicht weit von seinem Geburtshaus befindet sich am Rhein das Schloss Biebrich und der Biebricher Schlosspark.

Als ich das erste Mal Diltheys Geburtshaus besuchen wollte, wusste ich nicht, wo es sich befindet. Ich fragte mindestens fünf Einwohner von Biebrich nach dem Weg. Leider konnten sie mir keine Auskunft geben – sie wussten nicht mal, wer Wilhelm Dilthey war.

In meinem Nachschlagewerk Große Denker schreibe ich über Diltheys Philosophie:

„Dilthey ist einer der bedeutendsten Methodologen der Geisteswissenschaften. Er spricht auch von einer Grundlegung der Geisteswissenschaften. Die Aufgabe seiner Philosophie ist es, die Eigenart der Geisteswissenschaften und damit auch den Unterschied zwischen ihnen und den Naturwissenschaften herauszustellen.

Der Gegenstand der Geisteswissenschaften ist die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit. Die Äußerungen (Manifestationen) dieser Wirklichkeit sollen in den Geisteswissenschaften nacherlebt und denkend erfasst werden. Gegenstand der Naturwissenschaften ist die äußere Wirklichkeit. In ihnen wird von der Besonderheit der Einzeldinge und –vorgänge abgesehen. Die Einzeldinge und –vorgänge werden als Fälle von allgemeinen Naturgesetzen erklärt.

Ziel der geisteswissenschaftlichen Arbeit ist das Verstehen von individuellen, geschichtlichen Ereignissen, Zeugnissen usw. In den Naturwissenschaften geht es also um das Erfassen des Allgemeinen, in den Geisteswissenschaften um das Erfassen des Einzelnen, Besonderen, Individuellen. Die Vorgehensweise (Methode) der Naturwissenschaften ist das Erklären, die der Geisteswissenschaften das Verstehen.

Dilthey gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der Theorie des Verstehens, die als Hermeneutik bezeichnet wird. Er bestimmt das Verstehen als das Erfassen von Bedeutungen menschlicher Äußerungen. Dieses Erfassen ist möglich, weil Menschen in einer gemeinsamen, geschichtlichen Welt leben; sie teilen sich bestimmte Meinungen, Normen, Werte und Überzeugungen; sie besitzen einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund. Zum Verstehen der Bedeutung von Äußerungen gehören das Sich-Hineinversetzen, das Nachvollziehen und das Nacherleben.

Um die geschichtliche Welt, in der sich alles permanent verändert, zu verstehen, muss – so Dilthey – die kantische „Kritik der reinen Vernunft“ durch eine „Kritik der historischen Vernunft“ erweitert werden. Dies bedeutet erstens, dass spezifische Bedingungen des Erfassens bzw. Verstehens der geschichtlichen Welt herausgestellt werden müssen, und zweitens, dass diese Bedingungen nicht statisch und unveränderlich, sondern veränderlich, dynamisch und prozesshaft sind. Sowohl die historische Wirklichkeit (das Ablaufen von Ereignissen) als auch das Wissen um diese Wirklichkeit haben demnach einen dynamischen, d. h. geschichtlichen, Charakter. Dieser Sachverhalt wird auch als Geschichtlichkeit bezeichnet.

Aufgrund seiner methodologischen Überlegungen entwickelt Dilthey eine Lebensphilosophie. Das Leben bezeichnet das Ganze (die Totalität) des Menschen und der vom Menschen geprägten Welt. Der Mensch (Subjekt) und die Welt (Objekt) bilden im Leben, im Erlebniszusammenhang, eine Einheit. Alle Produkte des Menschen sind Funktionen des Lebens. Das Leben liegt der Verstandestätigkeit zugrunde. Auch der Verstand ist eine Funktion des Lebens.

Als kleinste Einheit des Lebens wird das Erlebnis bestimmt. Im Erlebnis kommt die Struktur des gesamten geschichtlichen Lebens zum Ausdruck. Im Erlebnis gründet die Einheit von Subjekt und Objekt. Das Erlebnis ist nicht hintergehbar. Die wichtigsten Kategorien des Lebens sind: Zeitlichkeit, Bedeutung, Wert, Zweck, Struktur, Entwicklung und das Verhältnis von Ganzem und Teilen.

Dilthey lieferte grundlegende Beiträge zur Methodologie der Geisteswissenschaften, zur Hermeneutik und zur Lebensphilosophie. Er beeinflusste u. a. M. Scheler, E. Husserl, M. Heidegger und H. G. Gadamer.“

Quelle: Alexander Ulfig, Große Denker, Kindle Edition, Preis: 3, 99 Euro

Für die Inhalte der Blogs und Kolumnen sind die jeweiligen Blogger verantwortlich. Die Beiträge der Blogger und Gastautoren geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.

Ihnen hat der Artikel gefallen? Bitte
unterstützen Sie mit einer Spende unsere
unabhängige Berichterstattung.

Abonnieren Sie jetzt hier unseren Newsletter: Newsletter

Kommentare zum Artikel

Bitte beachten Sie beim Verfassen eines Kommentars die Regeln höflicher Kommunikation.

Gravatar: Gernot Radtke

@ Werner N. - Lieber Werner N.! Danke für Ihre Stellungnahme, in der Sie leider wieder ins Historisieren zurückfallen und zu so erstaunlichen Aussagen kommen wie, nach 250 Jahren stimme am ‚Sapere aude‘ etwas nicht, ja, die Aufklärung solle „überflüssig“ werden. Wollen Sie lieber das Mündelwesen? Die Gouvernantenherrschaft? Die linke Sprachregelung? Den ‚objektiven‘ Geist, wie er gerade wieder mal was auswürgt? Die Demoskopie als Schweizer Messer für alles?. - Als Philosoph haben Sie sich für den (normativen) Begriff dessen, was mit Fug und Recht Aufklärung genannt werden darf, stark zu machen, nicht seinen Mißbrauch für den Begriff zu nehmen, den (vor allem die marxistischen) Relativisten, Blender und Hochvirtuosen des (Selbst-) Widerspruchs mit ihm getrieben haben und als Konstruktivisten oder Dekonstruktivisten – wie es gerade in ihre Machtbegehrlichkeiten paßt – immer noch treiben. (Wußten Sie übrigens, daß Horkheimer, während das 68er-Dummvieh nicht nur in Frankfurt die Weltrevolution ausblökte, in seinem Schweizer Chalet per Telex eifrig an der Börse spekuliert hat?).
.
Sie, verehrter Werner N., arbeiten mit, soweit ich das sehe, vier (im ganzen unbestimmt gelassenen) Vernunftbegriffen: reine Vernunft; Vernunft der Aufklärung, moderne Vernunft, zynische Vernunft und mischen – das ist methodologisch leider naiv – Fragen nach dem Gegenstand mit Fragen nach dessen Gegenständlichkeit (Bedingungen seiner Möglichkeit; seiner widerspruchsfreien Denkbarkeit; seiner Konstitution). Gegenstand und Gegenständlichkeit sind, das lernen wir schon bei Platos ‚Gorgias‘ (am Bsp. der Tugend) und seiner fundamentalen Unterscheidung von bestimmendem Genus und bestimmten Spezies, nicht dasselbe. – Machen Sie sich im übrigen frei von irgendwelchen ‚Autoritäten‘. Mich interessieren Kant und Dilthey nicht deshalb, weil sie für große Denkpioniere gehalten werden, sondern weil sie die Probleme wissenschaftlichen und philosophischen Denkens überhaupt erst scharf gefaßt haben. Das Arbeiten an diesen Problemen hat ja nach beiden nicht aufgehört, hat allerdings nichts mit Sloterdijks Sottisen eines hochgebildeten Mannes und originellen Feuilletonisten zu tun. Wenn Sie mit Ihrem Verständnis solider philosophischer Begriffsbildung vorankommen wollen, studieren Sie außer Kant und Dilthey auch die ‚jüngeren‘ Reflexionsphilosophen, z.B. Richard Hönigswald, Prinzipien der Denkpsychologie u.a.; Hans Wagner, Philosophie und Reflexion u.a.; Gerd Wolandt, Idealismus und Faktizität u.a. Den ‚objektiven‘ Geist dürfen Sie mit all seinen historischen Auspägungen und Anwandlungen als Animateur und Stimmungskanone fürs Denken durchaus weiter erforschen, aber ein Philosoph werden Sie dadurch noch nicht. Auch für diesen Geist gilt: Wovon redet er eigentlich? Woher nimmt er es? – Vielleicht darf ich an dieser Stelle auch auf die vorbildlichen Arbeiten Dr. Ulfigs verweisen, der, wenn er z.B. – kritisch - über die Gendertheorien schreibt, immer einen historischen Aufriß des in Frage stehenden Problems gibt, bevor bzw. während er es sytematisch (philosophisch) abklopft und gründlich abprüft. Bleiben wir beim ‚Sapere aude!‘, dem einzigen Pfund, mit dem wir wuchern können, auch wenn es sich in der Welt nur wenig verzinst. Meiden Sie auf alle Fälle "Rottierungen" und "Clubbenbildung"!

[Gekürzt. Die Red.]

Gravatar: Werner N.

@ Gernot Radtke – Vielen Dank für Ihre gut gemeinten Ratschläge. Allerdings ist es so, werter Herr Radtke, dass mir bei der Arbeit an den Begriffen die Einwände der Kritiker immer plausibler und „vernünftiger“ erscheinen. Den gewöhnlichen „wissenschaftlichen“ (Kurz-) Schluss der „Aufgeklärten“, dass solche Mitbürger dann eben einen minder bemittelten Verstand besitzen, halte ich für überheblich und zu einfach. Wenn nur ein Teil der Kritiker–Argumente zutrifft – die nicht Begriffe, sondern die Realität zugrunde legen – dann beruht die „Vernunft“ der Aufklärung auf Reduktion und Nivellierung und hat allein dadurch zerstörerischen Effekt. So wurde das heute hoch verschuldet dahin taumelnde Europa von ausgesprochen rationalen „Vernunftmenschen“ bewerkstelligt, die unermüdlich die `Aufklärung` verklären. Der angeblich „mündige“ Bürger wird dafür aufkommen müssen! Nach 250 Jahren stimmt da Etwas am „sapere aude“ nicht.

Es ist falsch, wenn Sie den Begriff der „Epoche“ nur den Andenkenhändlern überlassen wollen, ihn so als Nebensächlichkeit behandeln. Die Grundhaltungen einer Epoche gehen Jeden an; sie beeinflussen nicht nur Objekte, sondern Menschen in den Gesellschaften täglich. Die `Moderne` – nunmehr als Epoche mit Ewigkeitsanspruch – wollte jedenfalls mittels Kultur und Zivilisation einen „neuen menschen“ schaffen, was ihr ja auch gelang.

Gegen Sloterdijk kann man Einiges vorbringen; so wenn er richtig einen „tolpatschigen Atheismus“ der `Aufklärung` ausmacht, aber nicht sagt, ob diesen die Epigonen bewirkten oder der Urheber. Seinen Hinweis, dass die aufklärerische „reine Vernunft“ in Wirklichkeit eine „zynische Vernunft“ zur Folge hatte, würde ich nicht als „postfaktisches Geklingele“ abtun.

Ein verhängnisvolles Versäumnis des intellektuellen Establishments war auch, dass es die Kritik der `Aufklärung` durch Horkheimer / Adorno und andere Mitglieder der Frankfurter Schule 50 Jahre ausblendete. Diese meinten u.A., dass Gewaltsamkeit und Herrschaftscharakter in der modernen Vernunft selbst angelegt seien. In jüngster Zeit versucht man, den Faden dort wieder anzuknüpfen.

Da Engels, die meisten Kommunisten und Sozialisten (nicht alle) von der Philosophie des „Königsbergers“ besonders begeistert waren („Kant gehört uns!“), könnte das zeigen, wo deren Logik oder Begründung? Schwächen aufweist. Angesichts bisheriger Ergebnisse sollte die `Aufklärung` überdacht, wenn nicht weitgehend überflüssig werden. Gegenphilosophien freilich gibt es erst im Ansatz.

Gravatar: Gernot Radtke

@ Werner N. – Ein Punkt noch: Das, was Voraussetzung (‚Bedingung der Möglichkeit‘) einer Gegenständlichkeit ist, hier: der Historie(n) mit ihrer Untersuchung von Artefakten und Geistesobjektivationen (von Bedeutungen und ihren Trägern) aller Art, ist in seinen Entdeckungs- und Erlebenszusammenhängen natürlich ‚historisch‘/ein Entstandenes, von der Welt mal mehr, mal weniger beachtet. In ihren Geltungszusammenhängen /Begründungsbezügen kann die Historie es aber so wenig sein, wie Newton’sche oder Einstein’sche Physik auf dem Mars eine andere sein könnte als auf der Erde. Historisieren Sie die unerläßlichen Grundlagen aller Wissenschaften, etwa durchs ‚Cui bono‘, dann hängen Sie am Ende Ihrer Reflexionen im Nirwana von A, das zugleich auch Non-A ist. Dann können Sie Ihre Reflexionsmansarde eigentlich dicht machen. Um es mit einem kleinen Knallfrosch zu sagen (ich hab’s kürzlich irgendwo gelesen): ‚Die Basis ist die Grundlage des Fundaments‘. Ohne Basis keine Grundlage; ohne Grundlage kein Fundament; ohne Fundament kein Haus oder nur eins a la Buster Keaton – mit Hauseingang oben am Dachgiebel und der Badewanne auf dem Balkon. Auch dieses Leben kann ein schönes sein und einem die Frauen zutreiben. – Vielen Dank für Ihren, wie ich im nachhinein sagen muß, klugen Mißgriff mit den Polowetzer Tänzen. Ohne diesen wäre unser Philosophieren beim 12. Imam geblieben - im Verborgenen. - Da Sie Musik mögen, hier ein Geheimtip: Beschaffen Sie sich für Ihre Denkpausen die Klavierkonzerte von Adolf von Henselt und Moritz Moszkowski (im Konzert riskiert die keiner). Hochseil und Loopings at it’s best.

Gravatar: Werner N.

@ Dr. Alexander Ulfig – Ihren Hinweis auf den Philosophen Dilthey schätze ich sehr, er half mir in einigen Punkten weiter. Mit Ihrer wissenschaftlichen Methode habe ich nach wie vor meine Probleme, aber Herr Radtke klärt mich gerade auf, woran das liegen könnte.

Gravatar: Gernot Radtke

@ Werner N. – Verehrter Werner N.! Ich muß gleich dem ersten Satz Ihrer Replik widersprechen, die mir im ganzen schon viel besser gefällt als der erste Anlauf. Bleiben Sie bei Kant und der ‚Aufklärung‘ als Prinzip; als unverzichtbare Voraussetzung allen Denkens und aller Wissenschaft! Man stürzt ein paarmal, bis man sich den Relativismus und seine Mündelpädagogikaus den Knochen gebürstet hat, aber dann geht’s voran. Schritt für Schritt. Unterscheiden Sie bitte die Aufklärung als Epoche von der Aufklärung als Prinzip (als Inbegriff von Konstitutions- und Geltungsprinzipien). Für die Epoche sind die Geschichtsschreiber (Geistes- / Kultur- / Politikgeschichtler) zuständig, für das Prinzip die Philosophen, die, was denn überhaupt Aufklärung sei, klären müssen, damit die Historiker wissen, wonach sie überhaupt zu suchen haben und was sie sinnvoll zu einer Epoche zusammenfassen können. Dazu bedarf es strengster Analyse des einem Suchauftrag zugrunde liegenden Problems. Wenn man z.B. Kant, Fichte, Schelling, Hegel zum ‚Deutschen Idealismus‘ zusammenfaßt oder Sloterdijk dem postfaktischen Geklingele der Neuzeit zuordnet – welchen Erkenntnisgewinn zieht man daraus? Etwa den, daß jeder von ihnen seine Narreteien auf seine eigene Weise ‚austanzt‘? Und wenn es so wäre, haben sie trotz ihrer wilden Ringelpieze nicht vielleicht doch ein Wichtiges gemeinsam: das Problem der Begründung und Letztbegründung der Wissenschaft mit Hilfe eines Subjektsbegriffes und seiner ‚Kategorien‘, die überhaupt erst Gegenstandsfelder und deren Einzeldisziplinen eröffnen. Zuletzt steht nichts weniger als das System der Wissenschaft überhaupt infrage. Schwerer Tobak. Alles muß abgeklopft, befragt, zerlegt, rekonstruiert, verglichen, wieder zusammengebaut / richtig zusammengeschraubt werden usf. Gründliches Studium logicum ist ebenfalls unverzichtbar. Ob die Aufklärung (als Epoche) vorüber ist, im Dornröschenschlaf oder kurz vorm gesellschaftlichen Massenausbruch, spielt für den Philosophen überhaupt keine Rolle; ist außer für Andenkenverkäufer völlig belanglos (‚Hier an diesem Orte fand im Jahre 2016 nach Postfactum ein Massenausbruch von Vernunftbekundungen statt.‘). Finden Sie sich damit ab! Polowetzer Tänze können da - meine Konzession an Ihren heiteren Einfall - durchaus ein Remedium gegen die schlimmsten Denk-Beschwerden sein. Aber den Begriff des Begriffs geben sie nicht. Und ob einer „geschraubt“ schreibt, spielt in der Romankunst gewiß, in der Wissenschaft aber zuletzt überhaupt keine Rolle, wenn der Gegenstand nur richtig erkannt ist. Nicht alle können sich so faßlich ausdrücken wie Dr. Ulfig, Sie und ich. – Noch eins: Nie aufgeben! Geschwätzrunden meiden! An gründlichem Problem- und Textstudium führt nun mal nichts vorbei. Erst danach dürfen Sie sich ins Feuilleton begeben und, wenns behagt, linke Relativisten verdreschen. Die nehmen nämlich allmählich überhand. Da schlägt Zeitgeschichte dann in das systematische Problem ihrer als möglich und nötig zu bedenkenden Rückführung, wenn nicht gar Beseitigung um. – Alles Gute!

Gravatar: Werner N.

@ Gernot Radtke – Also, jetzt hatte ich mal gemäß Kant den Mut, meinen Verstand zu gebrauchen und wieder war`s nichts. Dabei übten auch Andere fundamentale Kritik am Aufklärer, wie Schopenhauer, Schiller, Hegel, Rousseau, Nietzsche, Dilthey bis hin zu Lyotard, Gadamer, Sloterdijk. Ich dachte, es tut der „reinen Vernunft“, der „Urteilskraft“ und dem „Ding an sich“ nicht gut, sie einfach zu ignorieren. Aber vielleicht „fabulierten“ diese am Ende auch? Ferner versuchten in den vergangenen 2–3 Jahrzehnten etliche Autoren, ..“über das Kantische System als solches eine tiefere Aufklärung zu gewinnen“.. (D. Henrich). Zum Teil sahen sie den „Alleszertrümmerer“ (M. Mendelssohn) kritisch: G. Vattimos, Kardinal K. Lehmann, G. Vollmer, E.-M. Engels, G. Frey, W. Leinfellner, W. Schneiders u.A. Das ist hier in wenigen Zeilen nicht möglich. Da meine „Polowetzer Tänze“ zum Schreibstil Kants nicht Ihren Gefallen fanden, vielleicht ein Ersatz: ..“Eine Philosophie, die schwindelig macht mit ihren knöchernen Schraubbewegungen“.. (P. Sloterdijk / >Kritik der zynischen Vernunft< 1983, S. 16).

Ob die `Aufklärung` gescheitert ist, ob die `Moderne` als Epoche ein Ende fand oder nur einen Schwächeanfall erlitt, ob es eine „erweiterte“ oder „Gegenaufklärung“ benötigt, wäre noch fundierter zu diskutieren, ohne das übliche intellektuelle Umgehen der „Knackpunkte“ – sofern man die `Aufklärung` nicht wie Lyotard für eine unglaubwürdig gewordene „Metaerzählung“ hält. Deren unkritische Fortsetzung jedenfalls löst die wachsenden Probleme nicht, verschärft sie im Grunde.

Zur Neuro–Wissenschaft gibt es einige Literatur z. Bsp: Wolf Singer >Ein neues Menschenbild?< Gespräche über Hirnforschung / 1996. Dilthey wurde (im Gegensatz zu Kant) m.W. damit noch nicht erörtert.

Gravatar: Dr. Alexander Ulfig

@Werner N.

Dilthey steht doch in der Tradition der Aufklärung. Er erweitert die Kantsche Vernunftkritik und die historische Vernunft. Apriorische Bedingungen des Denkens, die bei Kant statisch, also unveränderlich sind, zur unveränderlichen Natur des Menschen gehören, werden bei Dilthey historisiert. Einige Forscher sprechen hier von der "historischen Aufklärung" (vgl. Herbert Schnädelbach, Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus, 1974). Ob Dilthey diese Historisierung tatsächlich gelungen ist, steht auf einem anderen Blatt. Offen bleibt auch die Frage, wie man überhaupt etwas erkennen kann, wenn sich nicht nur die äußere Realität, sondern auch die Bedingungen der Erkenntnis dieser Realität ändern (ein Grundproblem des Historismus).

Gravatar: R. Avis

Beim Internationalen Abitur (International Baccalaureate, abgekürzt: IB) gibt es das Pflichtfach "Theory of Knowledge" (ToK). Darin geht es genau um diese Fragen: was wissen wir, was glauben wir zu wissen und warum denken wir, daß wir es zu wissen glauben? Vor allem das Kapitel Geschichte ist interessant, weil dort beschrieben wird, wie wenig Gewicht Fakten haben im Vergleich zu Interpretationen. Leider fehlen deutsche Denker wie Kant und Dilthey, aber auch in England und Frankreich hat man sich ja über grundlegende Fragen Gedanken gemacht.
Das IB wird auch in Deutschland an manchen Gymnasien als Zusatzprogramm zum Abitur angeboten. Der Arbeitsaufwand ist mörderisch (eben wie früher beim "kompletten" Abitur) aber das Ergebnis lohnt sich.

Gravatar: Gernot Radtke

@ Werner N. - Haben Sie eigentlich selber verstanden, was Sie da mit Ihren Polowetzer Tänzen hinlegen? Da ist ja außer wilden Sprüngen und Geisterbeschwörung nichts drin. Logik? Roter Faden? Vernunft? – Vielleicht handelt es sich um einen ‚genialischen‘ Text. Aber den sollten Sie uns dann doch noch einmal klar, deutlich und begründet vorlegen. Zur „Neuro-Wissenschaft“ als Dilthey-Ergänzung müßten Sie die Bedingungen dieser von Ihnen vorgestellten Möglichkeit im System der Wissenschaften, ihrer Theorien und abschließenden Begründung in der Reflexionsphilosophie herausarbeiten. Bloßes Behaupten und ziellose Ritte durch Epochen und Geistesgeschichte genügen da nicht. Nur mit angerissenen Begriffsfetzen von Horkheimer, Sloterdijk, Postmoderne, Postphysikalismus und dann auch noch mit den Polowetzer Tänzen rumzufuchteln und vom 'Paradigmenwechsel' zu fabulieren, ist entschieden zu wenig. Wenn ich Ihnen einen Rat geben dürfte: Bleiben Sie lieber bei Borodins Tänzen und der wundervollen Klassischen Musik! Das wühlt auch die Gemütsvermögen nicht so auf wie die strenge und nicht selten verzweifelte Arbeit am Begriff.

[Gekürzt. Die Red.]

Gravatar: Freigeist

Beim Lesen des Artikels ist mir spontan Peter Sloderdijk eingefallen.

Gravatar: Werner N.

Es ist richtig und verdienstvoll, Wilhelm Dilthey (1833–1911) als bedeutenden Philosophen in Erinnerung zu bringen. Gehört der Begründer einer neuzeitlichen Geisteswissenschaft doch zu Denjenigen, die von der intellektuellen Elite weitgehend ausgeblendet wurden. Schwer verständlich ist danach allerdings, wie man noch das Hohelied der `Aufklärung` singen kann, die im vergangenen Jhdt. ohnehin eher als `Verklärung` auftrat. Bei Dilthey wäre nachzulesen, wie und warum diese einen „verdunkelnden“ (M. Horkheimer) oder „verdüsternden“ (P. Sloterdijk) Effekt hat. Um nicht missverstanden zu werden, sei wiederholt: Die `Aufklärung` war dennoch eine bedeutende und notwendige Epoche. Wie wenig jedoch ihr Vernunftbegriff zur Logik beitrug, zeigt sich bei den „Followern“, die ihr immer noch Ewigkeitsstatus zubilligen wollen.

Der „Königsberger“ brachte seine Sicht der Dinge in einer Art ausgedehnter begrifflicher „Polowetzer Tänze“ vor. Die geschraubten Sätze machen den Leser geradezu schwindelig. Kein Wunder, dass er übersieht, wenn der eine oder andere Tänzer sang- und klanglos von der Bühne verschwindet. Die positivistische, naturwissenschaftliche „empirische Vernunft“ war Favorit, wobei die unterschiedlichen Fähigkeiten des Verstandes merkwürdig unter den Tisch fielen. Weiterhin greifen das „Gleichheitsapostel“ dogmatisch auf. Dilthey schaltete den Verstand keineswegs aus, sondern sah ihn als eine Instanz unter anderen im menschlichen Bewusstsein, das er ganzheitlich beschrieb.

Selbst bei Vertretern der `Postmoderne` oder des `Postphysikalismus` fehlt Dilthey im Literaturverzeichnis. Auch den „Neu–Rechten“ in Europa könnte er die bislang fehlende Weltanschauung oder Leitkultur liefern und damit die Deutungshoheit zurückgeben. Ferner würde das bloße Zurückfallen in ein Denken von „Alt–Con`s“ vermieden.

Die Säulen der `Moderne` (und damit der `Aufklärung`) haben ihre Tragkraft verloren. Das Verkleistern der Risse und Einziehen von Hilfsstützen kann nur eine Zeit lang darüber hinwegtäuschen. ..“Die Krise der Moderne ist das wichtigste Thema unserer Gegenwart und sie zeigt sich auch als Krise des Fortschritts, Krise des Ichs, als Krise der Werte oder gleich als Krise des Menschen“.. (Siegfried König >Philosophie der Gegenwart< 2014).

„Erweiterungen“ von Kant um Dilthey werfen die Frage auf, warum nicht die umgekehrte Reihenfolge, Dilthey und Kant oder gar Dilthey statt Kant? Solche "Erweiterungen" landen i.d.R. bei einem paradoxen Sammelsurium von Positionen und Gegenpositionen. Der „erweiterte“ oder „vollkommene“ Marxismus gibt dafür ein Beispiel. Es bleibt offen, ob noch Marxismus vorliegt oder nicht. Außerdem kam auch diese „Läuterung“ zu spät, konnte den bankrotten Sozialismus nicht mehr retten.

Hier wird einem revolutionären Paradigmenwechsel der Vorzug gegeben. Kants berühmter Satz „Sapere aude“ wäre umzuwandeln in: Habe den Mut, Kant und die `Aufklärung` kritisch zu hinterfragen; es würde seinem Postulat des Übersteigens von Grenzen entsprechen. Dilthey könnte man „erweitern“ mit den Erkenntnissen der Neuro–Wissenschaft, die es zu seiner Zeit noch nicht gab.

Gravatar: Gernot Radtke

Vielleicht darf ich Herrn Dr. Ulfigs Ausführungen noch ein wenig unterstützen: Man könnte Dilthey einen Kant, ja mindestens einen Pionier der Grundlegung der Geisteswissenschaften nennen. Wie Kants Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrungswissen-schaft bzw. Nicht-Erfahrungswissenschaft (Metaphysik; Religionsphilosophie) ist auch die Frage nach dem besonderen Gegenstand der Geisteswissenschaft eine nach dessen spezifischer Gegenständlichkeit und deren Geltungsbedingungen, die ihn überhaupt erst zu „verstehen“ und zu „erklären“ erlauben. Das ist echte und anspruchsvollste Reflexionstheorie. Natürlich fällt auch ein Artefakt, z.B. eine Ming-Vase, nach Gesetzen der Natur zu Boden, aber sein Begriff geht noch lange nicht darin auf. Er weitet sich aus auf den, der das Artefakt als einen Funktions- und Bedeutungsträger geschaffen hat. Auf dessen Lebenswelt, Kultur, Geschichte und, jawohl, Freiheit in allen Facetten. Dem Menschen falle es leichter, sich für ein Stück Lava vom Mond zu halten als für ein Ich (freies vernunftkonstituierbares Subjekt), hat schon der Philosoph Fichte mit einigen Seufzern über die Unbildung und Unbedarftheit so mancher in kulturellen Angelegenheiten in ein Bonmot gefaßt. Daß viele schon das bloße Vorhandensein einer Objektivation des Menschengeistes als (multi-) kulturellen Glücksfall einer obendrein noch zu beschleunigenden ‚Diversity‘ nehmen wollen, zeigt, wie dringend Kulturphilosophie und Kulturkritik gefordert sind und auf keinen Fall allein den intellektuellen Flachfliegern aus Politik und Utopismus überlassen werden dürfen. Mit Kant und Dilthey und ihren Nachfolgern läßt sich vieles dazu vorbringen, was dann doch mehr ist als das laute Fröschequaken im Puhl von Dummhausen.

Schreiben Sie einen Kommentar


(erforderlich)

Zum Anfang